Forschungsprozess

Leerstellen der NS-Gewalt in München und Umgebung

 Methodologische Annäherungen und Herausforderungen

von Marketa Spiritova

 

Sich auf die Spurensuche nach den materiellen und symbolischen Orten zu begeben, die erst langsam Teil eines überregionalen kollektiven Gedächtnisses werden wie die Orte der NS-Zwangsarbeit, ist kein einfaches Unterfangen.

Zum einen handelt es sich, um einen Begriff Reinhart Kosselecks aufzugreifen, um Orte, die Teil des „negativen Gedächtnisses“ sind.1 Das sind „traumatische Orte“, an denen „exemplarisch gelitten wurde“,2 und die eher einem Vergessen anheim fallen. Orte, die nicht oder nur in unzureichendem Maße Teil identitätspolitischer Diskurse sind und die erst mithilfe wissenschaftlicher und vor allem lokaler Initiativen in langwierigen Aushandlungsprozessen mit lokalen Politikerinnen und Politikern zu Erinnerungsorten werden.

Zum anderen handelt es sich um eine Spurensuche, die einen interdisziplinären, in Theorie und Empirie geschichtswissenschaftlichen und ethnologischen Ansatz verfolgt, und deren Ergebnisse am Ende für eine breite Öffentlichkeit aufbereitet werden sollen.

Fragen und methodische Annäherungen

Das stellt die Forschenden, auch wegen des engen Zeitrahmens, vor kleinere und größere Herausforderungen: Wie und wo die Suche nach den Überresten und Traditionen, den Erinnerungen und Erzählungen beginnen − besonders wenn man völlig ‚fachfremd’ ist? Begriffe und Konzepte, Archivrecherchen und Feldforschung, Diskursanalyse und Ethnografie sind sinnvoll in Einklang zu bringen. Was ist ein Erinnerungsort, was eine Leerstelle in der lokalen Erinnerungskultur? Wann hört ein Ort auf eine Leerstelle zu sein und beginnt, ein Erinnerungsort im Sinne Pierre Noras zu werden, also zu einem Kristallisationspunkt eines kollektiven, in unserem Falle regionalen Gedächtnisses?3 Reicht eine kleine Gedenktafel am historischen Ort aus oder bedarf es mehr? Welche historischen und symbolischen Orte des Erinnerns und Vergessen wählt man aus, und welche bleiben außen vor und warum? Wer sind die Menschen, die ihre Vergangenheitsdeutungen in die lokalen Gedächtnislandschaften einschreiben (wollen)? Durch welche Diskurse und Praktiken, Rituale und Symbole? Welche Rolle spielen neben politischen vor allem die lokalen zivilgesellschaftlichen Akteure, das heißt Lokalhistorikerinnen und -historiker, Kunstschaffende, Lehrerinnen und Lehrer, Museen, Gedenkstätten und Vereine? Wo ergeben sich Reibungsflächen und Konflikte, die jedem Konstruktionsprozess kollektiver Erinnerungen in demokratischen, pluralen Gesellschaften zu eigen sind?

Uns geht es also ˗ entsprechend den theoretischen Konzepten zum kollektiven Gedächtnis (Maurice Halbwachs) und den lieux de mémoire (Pierre Nora) − nicht (nur) um Ereignisgeschichte, sondern vor allem um die Wahrnehmung historischer Ereignisse und ihrer Erzählung in der Gegenwart. Es geht „um das reale Fortleben geschichtlicher Begebenheiten im kollektiven Gedächtnis und in der Erinnerung einzelner Menschen (‚Erinnerungsgeschichte‘), um aktuelle Geschichtsbilder von Gruppen und Gemeinschaften (…)“.4 Es ist uns ein besonderes Anliegen, wofür Aleida Assmann, Mary Fulbrook und andere Erinnerungsforscher plädieren, „Gedächtnisorte ‚von unten‘“ zu erforschen, da Erinnerungskultur „auch ein Projekt der Zivilgesellschaft“ ist.5 „Erinnerungskultur“ steht „auch für die mittleren und unteren Etagen der Pyramide – für eine Vielzahl von inoffiziellen, informellen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten und Initiativen, die lokal und bottom up in deutschen Städten und Regionen von den Bürgerinnen und Bürgern selbstbestimmt, ehrenamtlich und ohne große Medienöffentlichkeit praktiziert werden“.6 Der lokale und regionale Fokus ist − auch aus persönlichen und praktischen Gründen, für uns von Bedeutung. Deshalb handelt sich um eine Momentaufnahme der Aushandlungsprozesse um einige wenige lokale Leerstellen und Erinnerungsorte im Jahre 2015 in München und Umgebung.

Unser methodischer Zugang zum Feld war zugleich ein geschichtswissenschaftlicher und ein ethnografischer: Lesen von Archivquellen wie Akten und Dokumenten aus der NS-Zeit, von Briefen von Zwangsarbeiterinnen und KZ-Häftlingen, von Ausstellungstexten und Zeitungsartikeln sowie − wenn möglich − von Sitzungsprotokollen von Erinnerungsinitiativen.7 Das Projekt sollte sich nicht auf die Recherche historischer Fakten und Analysen politischer Erinnerungsdiskurse beschränken, sondern − auch aufgrund der Auflagen des Elitestudiengangs zum interdisziplinären Arbeiten − die ganz konkreten Praktiken des Erinnerns und Vergessens auf lokaler Ebene mittels kulturanthropologischer Zugänge erforschen.

Wir wählten einen multimethodischen, multiperspektivischen Zugang wie er in der Europäischen Ethnologie und Kulturanthropologie vertreten wird. Dazu gehörten narrative Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, Erinnerungsaktivistinnen und -aktivisten, Lokalpolitikerinnen und -politikern, Kunstschaffenden und Lokalhistorikerinnen und -historikern; informelle Gespräche mit Anwohnerinnen und Besuchern von Gedenkveranstaltungen; Besuche von Ausstellungen und Gedenkstätten; Begehungen historischer Stätten wie jüdischer Friedhöfe und ehemaliger Zwangsarbeitslager; schließlich teilnehmende Beobachtungen bei und Fotodokumentationen von historischen Führungen, Gedenkritualen und Denkmalseinweihungen. Auf diese Weise konstruierten wir ‚unser Feld‘. Erst im Verlauf des Projekts verdichteten sich die einzelnen empirischen Beobachtungen und Befunde zu einem komplexen Bild von Erinnerung und Beschweigen. Wir betrieben also eine multilokale und mehrstimmige Ethnografie, um die verschiedenen Orte und Zeiten, Objekte und Stimmen, an die sich Erinnerungen heften, zueinander in Beziehungen zu setzen und auf unserer Internetseite zu präsentieren.8

Probleme und Herausforderungen

Dass die Mehrheit der Quellen, auf die wir uns beziehen − sowohl die aufgeschriebenen Lebensgeschichten als auch die selbst geführten Interviews − nicht die Wirklichkeit 1:1 abbilden („ganz genau so war es“), ist uns als Erinnerungsforscherinnen und Erinnerungsforschern bewusst: Es gibt ‚viele Wahrheiten‘. Das gilt allerdings genauso für die amtlichen Quellen der Nationalsozialisten. Auch diese Inhalte sind nicht ‚objektiv‘, da sie hochgradig von der zeitgenössischen Ideologie überformt sind. In Bezug auf biografische Texte muss berücksichtigt werden, dass die aus der Gegenwartsperspektive erzählten subjektiven Deutungen und Rekonstruktionen des eigenen Lebens (und damit der eigenen Identität) auch „zahlreiche Formen selektiven Behaltens und Vergessens, bewußte oder unbewußte Legitimationen und von ‚offiziellen‘ Beurteilungen beeinflußte Wertungen (…) der vergangenen Ereignisse“9 beinhalten. Individuelle Lebenserfahrungen und kollektive Deutungen historischer Ereignisse wirken unweigerlich ineinander. In den Erinnerungen kommen damit auch immer Teile des kollektiven Gedächtnisses zum Tragen.10 Gleichwohl gilt es, den einzelnen Erzählungen mit Respekt zu begegnen und ‚ihre‘ Wahrheit anzuerkennen.

Die empirischen Befunde und Erkenntnisse mussten schließlich praktisch umgesetzt werden: die Verschriftlichung der gesammelten und ausgewerteten Daten für ein interessiertes Publikum, auch oder vor allem jenseits der akademischen Welt; die Erstellung der eigenen Homepage; schließlich die zeitintensive Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Ein Unterfangen, das bis zum Schluss von Höhen und Tiefen begleitet wurde: von der Begeisterung für das Feld, aber auch von der Betroffenheit gegenüber den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen; vom Frust über bürokratische Hürden und dem Aushandeln von Hierarchien und Zuständigkeiten; von der Macht des Feldes und den Grenzen des Sagbaren; nicht zuletzt dem Aushalten von gruppendynamischen Entwicklungen.

Die Auswahl der Orte

Wie haben wir unsere Orte gewählt, die in vielerlei Hinsicht sehr unterschiedlich sind? Zum einen handelt es sich um konkrete historische Orte wie das Außenlager Kaufering VII des Konzentrationslagers Dachau oder aber um symbolische Leerstellen im Diskurs wie Kinder- oder Frauenzwangsarbeit. Zum anderen sind einige der Orte bereits Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und medialer Debatten wie etwa das Zwangsarbeitslager in Neuaubing. An anderen Orten lässt sich die ethnografische Spurensuche wiederum mit Katharina Eisch-Angus‘ Metapher der „Archäologie eines Niemandslandes“11 beschreiben, wo wir die Inschriften von Gräbern kaum noch lesen können, wo sich die materiellen Spuren einer verbrecherischen Vergangenheit nur noch erahnen lassen, wo sprichwörtlich ‚Gras über die Sache‘ gewachsen ist oder lange Zeit wachsen sollte (wie etwa auf dem MUNA-Gelände).

Ferner, und das ist ein Problem einer jeden Forschung, können wir nur eine begrenzte Auswahl an Orten in der Region darstellen, so dass viele Orte der NS-Zwangsarbeit und NS-Gewalt keinen Eingang in unsere virtuelle Karte finden: Etwa Stätten systematischer Zwangsarbeitseinsätze in mittelständischen Betrieben in der Stadt, die Zwangsbeschäftigung auf bayerischen Bauernhöfen auf dem Land, weitere ehemalige KZ-Außenlager wie Dachau-Allach und das OT-Lager Allach-Karsfeld in Ludwigsfeld12. Oder, auch das ist eine bekannte und nur unzureichend bearbeitete Leerstelle, die es in Zukunft zwingend zu füllen gilt, die Erinnerung an die Vernichtung durch Arbeit der Roma und Sinti13. Besonders in Bezug auf die Erinnerung an die Verfolgung der Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten hoffen wir im Rahmen eines Gastbeitrages auf unserer Homepage demnächst diese Leerstelle für München und Umgebung zumindest ein Stück weit zu füllen − zumal sich das Projekt als ein Beitrag zu einer dynamischen, ‚virtuellen‘ Lokalgeschichtsschreibung versteht.

Über die Wahl des Ortes entscheiden in der kulturwissenschaftlichen Forschung letztlich die Quellenlage (was gibt es an historischen Dokumenten, Akten, Protokollen, Interviews); der Zugang zum Feld (wer möchte überhaupt mit uns sprechen); die jeweiligen Interessen (etwa Fragen nach ‚weiblicher’ Zwangsarbeit); die Sprachkompetenzen (in unserem Fall vor allem russisch, ukrainisch und polnisch); und freilich auch die Praktikabilität (Anfahrt; Öffnungszeiten von Archiven und dergleichen). Wir ließen uns zu Beginn des Projekts unter anderem von der lokalen Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung inspirieren, die in der Gegenwart immer wieder auf  Leerstellen wie Kaufering, Neuaubing oder Allach hinweist.14 Ferner ergaben sich manche Orte durch unsere Kooperation außerhalb der Universität (wie im Falle Neuaubings mit Frau Dr. Sabine Schalm). Oder ein Ort wurde aus biografischen, persönlichen Gründen gewählt, weil man zum Beispiel selbst in Utting wohnt und mehr über die Geschichte und ihrer Erzählung in der Gegenwart erfahren möchte.

Die Macht des Feldes

Nicht jeder ist ein Ethnograf, nicht jede eine Historikerin, das heißt nicht alle Forschenden wollen und können gleichermaßen in ein Feld eintauchen und sich darauf einlassen. Nicht alle fühlen sich gleich sicher im Feld, gerade bei solch einem sensiblen, vielerorts noch tabuisierten Thema. Da ist die eigene Betroffenheit, wenn etwa der Holocaust-Überlebende Abba Naor von seiner Zeit als junger Mann in Dachau, Utting und Kaufering erzählt. Einer Zeit, die von Hunger, Entbehrungen, Leid und Tod geprägt war. Und die jahrzehntelang nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs niemanden in der Bundesrepublik, aber auch im neugegründeten Staat Israel, interessiert habe. Manchmal waren die Erinnerungen, Erzählungen und Emotionen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen kaum auszuhalten. Ihre Intensität wirkt weiter nach und man fragt sich, ob das forschungsethisch überhaupt vertretbar ist. Auch an dieser Stelle unser aufrichtiger Dank und Respekt für Ihre Offenheit und Geduld. Gerne hätten wir auch mehr über die Orte und Menschen erfahren, die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter beschäftigt haben. Es ist, auch Dank Winfried Nerdinger und seinen Kolleginnen und Kollegen, kein Geheimnis, dass in München und Umgebung kaum ein (noch so kleines) Unternehmen Menschen nicht zwangsbeschäftigte.15 Doch dies gestaltete sich in den meisten Fällen als ein schwieriges Unterfangen.

Und schließlich, hatte man einen Zugang gefunden – in der Regel über Erinnerungsinitiativen, Lokalpolitikerinnen und -politiker, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – konnte man schnell zwischen die Fronten von Interessenkonflikten geraten. Die oft zitierte Formel ‚Kampf um das Gedächtnis‘ wurde vielfach zur spürbaren Realität. Der ‚Macht des Feldes‘16, das die Forschenden für sich vereinnahmen und zum Sprachrohr eigener Interessen und Deutungen machen will, konnte man sich nicht immer entziehen. Ein weiteres Problem stellte der Umstand dar, dass die mühsam gewonnenen Daten wie Originaldokumente oder (kritisches) Interviewmaterial nicht veröffentlicht werden durften. Erstere weil es gesetzliche Fristen gibt, letztere weil es sich die Gesprächspartner anders überlegt haben. Man hatte also Quellen, die der Argumentation und Interpretation zugrunde lagen, und die die Präsentation der Projektergebnisse für die breite Leserschaft erst spannend gemacht hätten, durfte sie aber nicht verwenden. Aber auch das gehört zum Forschungsprozess dazu und muss respektiert werden.

Schreiben über NS-Verbrechen in Internet

Wie über NS-Verbrechen in einem genuin nicht wissenschaftlichen Medium wie dem Internet schreiben, in dem ein zu langer bibliografischer Apparat oder ausführliche Fußnoten den Lesefluss stören würden? Der Spagat zwischen fundierter Wissenschaft und ihrer Popularisierung für ein breites interessiertes Publikum bleibt eine Gratwanderung. Doch es war uns wichtig mit diesem Studierendenprojekt vor allem jene zu erreichen, die mit uns gesprochen haben, jene, deren bewegende Lebensgeschichten wir in den Archiven gefunden haben. Sowie auch jene, für die das Medium Internet attraktiver ist als eine wissenschaftliche Publikation. Schließlich ist es uns ein Anliegen, auf Leerstellen oder noch unbekannte Erinnerungsorte im lokalen Gedächtnis hinzuweisen. Und zwar keineswegs mit einem erhobenen Zeigefinger, sondern um noch die Überlebenden des Holocaust und der NS-Diktatur zu erreichen.

Dass hier vor allem Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus dem östlichen Europa zu Wort kommen, ist ihrer mangelnden Präsenz in der lokalen Erinnerungslandschaft sowie auch in der Forschung geschuldet. Trotzdem wollen wir hier – wie die Nationalsozialisten es getan haben – keine Ethnisierungen und Hierarchisierungen der verschiedenen Opfergruppen vornehmen. Wir sind uns bewusst, dass Zuschreibungen wie „Nationalität“, „deutsch“, „polnisch“ und dergleichen höchst problematisch sind und in einer kritischen Forschung zumindest diskutiert werden müssen. Wir wollen hier keinen wissenschaftlichen Diskurs mit unserer Leserschaft führen, doch wollen wir für den Umgang mit vermeintlich selbstverständlichen Begrifflichkeiten sensibilisieren und vorhandene Stereotype nicht noch reproduzieren. Daher die vielen Wörter und Bezeichnungen, die in den Texten mit Anführungszeichen versehen sind. Dadurch wollen wir uns von den Begriffen distanzieren und darauf verweisen, dass es sich oftmals um rassistische NS-Terminologie handelt. Wir wollen damit aber auch zeigen, dass Zuschreibungen wie „osteuropäisch“, „der Westen“, „der Osten“ geschlossene Einheiten suggerieren, die es so nicht gibt. Es sind keine ‚natürlichen’ Gegebenheiten, sondern sie sind Ergebnisse des historischen Prozesses.

Und schließlich haben wir uns dafür entschieden, Frauen und Männer gleichermaßen sprechen zu lassen. Sollte die eine Leserin oder der andere User unserer Internetseite beim Lesen ins Stolpern geraten: das ist gewollt. Im 21. Jahrhundert sollte das Bild der Menschen, die in den Konzentrations- und Arbeitslagern der Nationalsozialisten inhaftiert, zur Arbeit gezwungen, misshandelt, gefoltert und ermordet wurden, auch weibliche Gestalt annehmen.

Fragen, die bleiben

Ein einzelnes Studierendenprojekt kann nicht alles leisten. Es bleiben Leerstellen, auf einige wurde bereits hingewiesen. Hier sollten weitere Studierenden-, Schüler- und Forschungsprojekte stattfinden, und auch die politischen Akteure sind ist hier gefordert, die lokalen, zivilgesellschaftlichen Initiativen zu unterstützen. Gleichzeitig müssen auch grundsätzliche und (selbst-)kritische Fragen zumindest aufgeworfen werden: Gibt es ein Erinnern und Gedenken zu viel? Kulturkritische Stimmen sprechen von einer Gedenkindustrie17, andere wieder davon, wir, die nicht zur Erlebnisgeneration gehörten, „simulieren einen Selbstbezug, in den wir uns dann emotional hineinsteigern“18. Doch gibt es in Anbetracht von sechs Millionen ermordeten europäischen Juden, von 20 Millionen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, von etwa 27 Millionen Kriegsopfern in der ehemaligen Sowjetunion ein „fertig erinnert“19 – auch vor dem Hintergrund der gegenwärtigen weltpolitischen Lage?

Wie soll erinnert und der vielen Opfer gedacht werden? Was sind überhaupt ‚angemessene’, ‚legitime‘ Formen des Erinnerns und Gedenkens? Könnten ehemalige Lager wie Kaufering VII, wenn es die Tonröhrenbauten rekonstruieren und begehbar machen würde, nicht (un)freiwillig zu touristischen Attraktionen geraten? Und wie viel Authentizität ist nötig und überhaupt möglich? Welche Musealisierungspraktiken sind sinnvoll und notwendig um jüngere, seit den siebziger Jahren zunehmend erlebnisorientierte Generationen zu erreichen? Wo liegen die Grenzen zwischen pietätvollem Gedenken und Histotainment, das bis hin zum dark tourism20 reicht? Sollte es verboten werden, seine Hunde auf ehemaligen Lagergeländen auszuführen und seine Kinder dort spielen zu lassen? Oder im Gegenteil, sollten Anwohnerinnen und Anwohner historischer NS-Stätten nicht vielmehr genau an diesen Orten ihren Alltag leben und damit das Leben wieder zurückbringen?

Wie wird man schließlich den Opfern von NS-Gewalt und NS-Zwangsarbeit gerecht, die zum Teil zahlenmäßig, aber vor allem auch im öffentlichen Erinnerungsdiskurs die Minderheit bilden, wie Frauen und Kinder, Euthanasieopfer, Menschen mit queeren Lebensentwürfen und ‚ethnische‘ Minderheiten. Sie sind Opfer des menschenverachtenden NS-Regimes, die oftmals auch aus pragmatischen Gründen nur selten Eingang in (Dauer-)Ausstellungen finden. Wie vermeidet man überhaupt eine hierarchisierende Darstellung der Betroffenen und ihrer Lebens- und Leidenswege?

Diese und andere Fragen bleiben. Aber dient ein solches Vorhaben nicht auch dazu, nicht nur weiße Flecken aufzudecken, sondern durch sie überhaupt erst für ein Thema zu sensibilisieren? Interessierte zu weiteren Fragen und dem Nachdenken über verbleibende Lücken anzuregen und im besten Falle – und so sollte Forschung sein – weitere  (Studierenden-)Projekte anzustoßen.

  1. Koselleck, Reinhart: Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses. In: Knigge, Volkhart, Frei, Norbert (Hg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. Bonn 2005, S. 21-33, hier S. 21.
  2. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 328.
  3. Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin 1990.
  4. Weber, Matthias: Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Erfahrungen der Vergangenheit und Perspektiven. In: Ders. u.a. (Hg.): Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Erfahrungen der Vergangenheit und Perspektiven (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Bd. 42). Oldenbourg 2011, S. 11-25, hier S. 13.
  5. Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München 2013, S. 22. Siehe auch Fulbrook, Mary: Jenseits des kollektiven Gedächtnisses. Überlegungen zu den Folgen der NS-Verfolgung, URL: http://www.hsozkult.de/event/id/termine-23816 (18.11.2015).
  6. Assmann: Unbehagen, S. 22.
  7. Siehe z.B.: Mittler, Dietrich: „Es gibt Dinge, über die darf kein Gras wachsen.“ In: Süddeutsche Zeitung vom 25. April 2014, S. R 15.
  8. Vgl. Marcus, George: Ethnography in/of the World System. The Emergence of the Multi-Sited Ethnography. In: Annual Review of Anthropology 24 (1995), S. 95117; Eisch(-Angus), Katharina: Erkundungen und Zugänge I: Feldforschung: Wie man zu Material kommt. In: Klara Löffler (Hg.): Dazwischen. Zur Spezifik der Empirien in der Volkskunde. Hochschultagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Wien 1998 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien, Bd. 20). Wien 2001, S. 27-43.
  9. Lehmann, Albrecht: Autobiografische Methoden. Verfahren und Möglichkeiten. In: Ethnologia Europaea 11 (1979/1980), S. 36-54, hier S. 37. Siehe auch Stephan, Anke 2004: Erinnertes Leben: Autobiografien, Memoiren und Oral-History-Interviews als historische Quellen. In: Virtuelle Fachbibliothek Osteuropa, Digitales Handbuch zur Geschichte und Kultur Russlands und Osteuropas. Themen und Methoden: https://www.vifaost.de/metaopac/singleHit.do;jsessionid=F82D53510F8F0AF0E6447B66541A29A5.touch02?methodToCall=showHit&curPos=1&identifier=246_SOLR_SERVER_1760950442# (19.11.2015).
  10. Halbwachs, Maurice 1985 (1925): Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt/M.
  11. Eisch(-Angus), Katharina: Archäologie eines Niemandslands: Deutsch-böhmische Identität und die Gedächtnistopographie des böhmischen Grenzraums. In: Klaus Roth (Hg.): Nachbarschaft. Interkulturelle Beziehungen zwischen Deutschen, Polen und Tschechen, Münster u.a. 1998, S. 308-326.
  12. Siehe hierzu besonders die Arbeit des Lokalhistorikers Dr. Karl Mai: NS-Massengrab in Allach. Viele Politiker tun sich schwer. In: SZ.de vom 24. September 2015. URL: http://www.sueddeutsche.de/muenchen/ns-massengrab-in-allach-vergessenes-verbrechen-1.2661774-2 (18.11.2015).
  13. Siehe das Interview mit Hermann Höllenreiner in BISS: Fehlende Wertschätzung: Sinto Hermann Höllenreiner ärgert sich über das NS-Dokumentationszentrum. In: BISS 11 (2015), S. 14-17.
  14. Vgl. z.B. Mittler: Dinge.
  15. Nerdinger, Winfried (Hg.): Ort und Erinnerung. Nationalsozialismus in München. München 2006.
  16. Vgl. Becker, Franziska: Feldforschung und Politisierung vor Ort. In: Eisch, Katharina, Hamm, Marion (Hg.): Die Poesie des Feldes. Beiträge zur ethnographischen Kulturanalyse. Tübingen 2001, S. 26-47.
  17. Vgl. Schlaffer, Heinz: Gedenktage. In: Merkur 43 (1989), S. 81-84, hier S. 83.
  18. Jureit, Ulrike: zitiert nach Assman: Unbehagen, S.67.
  19. Assmann: Unbehagen, S. 71.
  20. Siehe z.B. Quack, Heinz-Dieter, Steinecke, Albrecht: Dark Tourism. Faszination des Schreckens. Paderborn 2012.