Vieles, was wir heute über die “Dachauer Hundertschaft” wissen, haben wir der Person Franz Brückls zu verdanken, welcher als einer der Zwangsarbeiter zur Bergung und Entschärfung der Bomben eingesetzt wurde. Als Überlebender und Zeitzeuge trug Brückl sehr viel dazu bei, dass das Gedenken an das Bombensuchkommando der Stielerschule nach dem Krieg nicht in Vergessenheit geraten ist.
von Miljan Jekić und Egor Trawkin
Zweihundertsechsundvierzig Bomben entschärfte Franz Brückl während seiner Zeit bei der „Hundertschaft“ in der Stielerschule. Er notierte jede entschärfte Bombe. Die Notizen wurden jedoch im Laufe seiner Zeit beim Kommando von einem freundlich gesinnten Blockwart in der Unterkunft gefunden und vor Entdeckung durch das SS-Wachpersonal “vorsorglich” vernichtet. In Brückls Erinnerung blieb nur die Zahl 246. Bei seiner 247. Bombe, die eine bis dahin unbekannte Bauart aufwies, habe er zum ersten Mal Angst bekommen und verweigerte dem Sprengmeister die Mitarbeit. Tatsächlich explodierte der Blindgänger kurz darauf und tötete einen Mithäftling und den anleitenden Sprengmeister auf der Stelle1. Drei Monate war Franz Brückl insgesamt im Einsatz für die „Hundertschaft“. Danach wurde er wieder zurück in das Konzentrationslager Dachau geschickt. Seine Geschichte ist einer von vielen ähnlichen Leidenswegen der Häftlinge aus dem östlichen Europa, die in München zur Zwangsarbeit gezwungen wurden. Dank einer studentischen Gruppe, welche mit ihm im August 1992 ein Interview führte und deren Mitschnitt erhalten geblieben ist, sind seine Erinnerungen an diesen Lebensabschnitt dokumentiert worden2.
Franz Brückl, 1910 als Franz Przybylski im polnischen Posen geboren, wuchs in einem deutschen Kinderheim auf und sprach daher sehr gut Deutsch3. Er wurde aufgrund seiner Mitgliedschaft beim Polnischen Roten Kreuz im Frühjahr 1940 verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau deportiert. Dort wurde er zur körperlichen Schwerstarbeit an verschiedenen Orten, darunter auch in der Kiesgrube, herangezogen, die den Häftlingen die meisten Mühen abverlangte und am gefürchtetsten war. Die Erfahrungen der schweren Jugendzeit und sein starker Glaube an Gott haben ihn diese Zeiten durchstehen lassen.4
Als in einer Julinacht 1944 das Bombensuchkommando zur Unterstützung der Münchner Feuerwerker zusammengestellt wurde, wurde Franz Brückl als einer der ersten Zwangsarbeiter von der Lagerleitung Dachaus für den Einsatz ausgewählt und zusammen mit anderen Lagergefangenen an die Stielerschule in München gebracht.5 Erst vor Ort wurde den Zwangsarbeitern ihre künftige Aufgabe erläutert. Gleich am nächsten Tag wurden Gruppen gebildet und einzelnen Feuerwerkern zugeteilt, Brückl wurde zum Gruppenleiter ernannt.6 Der zuständige Feuerwerker in München zeigte ihm nach der Freilegung seiner ersten Zeitzünderbombe in der Nymphenburger Str. 50 im ehemaligen Schreibwarengeschäft Kilger den mechanischen Prozess der Entschärfung.7 Die restlichen Bomben musste Brückl, von Beruf Schmied, selbst entschärfen. Es gab zu wenige Feuerwerker und zu viele Blindgänger.8 Brückl nahm diese gefährliche Arbeit sehr ernst – nach seiner Erinnerung wollte er nicht, dass durch die Detonationen noch mehr unschuldige Menschen wie Frauen und Kinder in den Wohngebieten Münchens ums Leben kommen.9
Das Foto, auf dem Franz Brückl auf einer Bombe sitzt, ist eines der bekanntesten in Bezug auf das Bombensuchkommando. Brückl habe hierzu einen SS-Wächter bestochen um an das Negativfolio des Bildes zu kommen.
Brückl kehrte nicht, wie viele seiner Mithäftlinge, nach der Befreiung am 29. April 1945 zurück in sein Heimatland. Er blieb in München, heiratete eine Münchnerin und wurde Vater. Den Familiennamen Brückl übernahm er von seiner Ehefrau. Lange Zeit habe er Dachau und das ehemalige Gefangenenlager gemieden und niemanden über sein Schicksal erzählt. Erst als Hans-Günther Richardi während seiner Recherchen im Stadtarchiv auf ihn stieß, begann er darüber zu sprechen.
In den 1990er Jahren ging er fast jede Woche zwei Mal in die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau. Und wenn er mit Freunden und Bekannten an der Stielerschule vorbeikam, erzählte er ihnen gelegentlich von den Einsätzen des Bombensuchkommandos. 1999 hielt Franz Brückl eine Ansprache bei einer Gedenkveranstaltung vor der Stielerschule. Unter den Anwesenden waren Mitglieder des Vereins „Zum Beispiel Dachau“ und die Vertreter_innen der Stadt München. An diesem Abend erzählte er viel ausführlicher als sonst. Franz Brückl starb kurz darauf am 22. Februar 1999 in München.
Franz Brückl machte bis zu seinem Tod in unregelmäßigen Abständen Schulbesuche und hielt Vorträge über seine Zeit beim Bombensuchkommando, darunter ebenfalls an der Stielerschule. Die Errichtung der Tafel am Eingang der Grundschule war zu großen Teilen auch sein Anliegen.10
Zugleich kann man kaum von tradierten, regelmäßigen Gedenkritualen an der Stielerschule sprechen. Ab und zu legen die Vereinsmitglieder von „zum Beispiel Dachau“ Blumen vor der Tafel nieder.11 Gleichwohl wird heute den neuen Schülern bei der Begehung über die Zeit des Nationalsozialismus erzählt. Auch einige ihrer Großeltern waren in dieser Zeit selbst Schüler in München und berichten über die Zeit.12 Den Schülern wird dabei vermittelt, dass die Gefangene, die in der Schule einquartiert waren, dazu gezwungen wurden, Bomben in München zu entschärfen und dabei starben.13 Dies sollte den Schülern verdeutlichen, wie fragil und schutzwürdig die rechtstaatlichen und menschenrechtlichen Prinzipien in der modernen Gesellschaft sein können.
- (o.A.): Interview mit Franz Brückl, Video vom 12. August 1992. ↩
- Verein „zum Beispiel Dachau“: Videomaterial aus dem Privatbesitz der Vereinsleitung, 1992, Dachau. ↩
- Interview mit Karl Hönle und Monika Lücking, Verein „zum Beispiel Dachau“, 15. Mai 2015, Dachau. ↩
- Interview mit Verein „zum Beispiel Dachau“, 15. Mai 2015, Dachau. ↩
- (o.A.): Interview mit Franz Brückl, Video vom 12. August 1992. ↩
- Franz Brückl, Video vom 12. August 1992. ↩
- Franz Brückl, Video vom 12. August 1992. ↩
- Franz Brückl, Video vom 12. August 1992. ↩
- Interview mit Karl Hönle und Monika Lücking, Verein „zum Beispiel Dachau“, 15. Mai 2015, Dachau. ↩
- Interview mit Verein „zum Beispiel Dachau“, 15. Mai 2015, Dachau. ↩
- Interview mit Claudia Schöll, Direktorin der Stielerschule v. 10. Juli 2015, München. ↩
- Interview mit Claudia Schöll v. 10. Juli 2015, München. ↩
- Interview mit Claudia Schöll v. 10. Juli 2015, München. ↩
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