- Die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter_innen durch die BRD
- “Meine Eltern waren Zwangsarbeiter”
- “Mein Leben war immer von Angst bestimmt.”
- Kinder und Jugendliche in Zwangsarbeit
Die Ukrainerin Nadja versteht als Kind nicht, warum ihr Großvater sie „Deutsche“ nennt. Die Antwort auf ihre Nachfragen ist haften geblieben: Nadja sei so pünktlich und ordentlich wie eine Deutsche – und sie sei in Deutschland geboren. Nadjas Eltern wurden 1941 aus der Gegend um Kiew nach Deutschland deportiert, sie selbst ist im Mai 1944 in München geboren. Welche Rolle spielt die Biographie der Eltern im Leben eines Kindes? Wir lernten Nadja im Mai 2015 dort kennen, wo sie das erste Jahr ihres Lebens aufwuchs – in Oberelkofen.
von Marie Grünter, Michael Störk, Enno Strudthoff
Nadjas Eltern begannen früh zu erzählen, wie sich ihr Leben im Jahr 1941 von einem Tag auf den anderen änderte. Vor allem die Erlebnisse und Empfindungen der Mutter prägen auch Nadjas Erzählung, berichtet sie doch immer wieder aus deren Perspektive. Nadjas Mutter wurde 1941 zusammen mit ihrem Freund nach Deutschland deportiert. Die beiden waren 19 und 20 Jahre alt, als deutsche Soldaten ihr Dorf im Kiewer Umland besetzten, alle jungen Leute in einen leeren Stall pferchten und sie kurz darauf zum Bahnhof brachten. Einige der Gefangenen hätten Selbstmord begangen. Man „konnte nicht fliehen“, erzählt Nadja, „weil sie von den Polizisten mit Schäferhunden bewacht wurden. Sie fuhren dann mit einem Güterzug, auf dessen Boden nur ein bisschen Heu gestreut wurde. Es gab nichts anderes als ein Loch, sozusagen als Toilette für alle, egal ob Mann oder Frau“. Auch die 15-jährige Ljuba wird plötzlich mitgenommen, ohne dass sie oder ihre Mutter wissen, wohin das Kind gebracht wird. Auf diese Weise werden ab dem Jahr 1941 acht- bis zehntausend Menschen aus den besetzten Gebieten nach Deutschland gebracht, laut Repatriierungsstatistik waren ein Fünftel davon Kinder.1
Nach der strapaziösen Fahrt werden die jungen Leute in Deutschland den Landwirten zugeteilt. Nadja erzählt, dass die Auswahlmethoden der Bauern rabiat gewesen seien. Ihre Eltern seien von Bauern geschlagen worden, um zu überprüfen, wie viel sie aushalten: „Und da haben sie probiert, ob die Zähne das aushalten [Nadja macht eine Schlagbewegung]. (…) Wenn sie umgefallen sind und nicht mehr aufstehen konnten oder wollten, wurden sie erschossen, weil sie nicht für die Arbeit zu gebrauchen waren. (…) Und als meine Mutter diesen Schlag sozusagen ins Gesicht bekommen hat, taumelte sie nur, hielt das aber aus. Dasselbe mit ihrem Freund und sie wurden dann für die Landwirtschaft ausgewählt und der Bauer hat sie dann geholt.“ Solch ein Umgang mit den dringend benötigten Zwangsarbeiter_innen war nicht die Regel, doch der erinnerte Vorfall verdeutlicht, wie wenig die Verschleppten als gleichwertige Menschen angesehen wurden.
Der Hof – Glück im Unglück?
Das Paar soll auf unterschiedliche Bauernhöfe aufgeteilt werden. Durch den Einsatz eines polnischen Bekannten, der ebenfalls zur Zwangsarbeit verschleppt worden ist, können sie jedoch zusammen bleiben. Denn er schlägt vor, selbst anstelle von Nadjas Vater auf den einen Hof zu gehen und das Paar zusammen auf einen anderen zu schicken. Die Mutter, erzählt Nadja später, habe die erste Zeit „nur geweint und geweint“. Die harte körperliche Arbeit von frühmorgens bis spätabends, zum Beispiel Kühe melken und auf dem Feld arbeiten, habe die Eltern aber auch vom Heimweh abgelenkt.
Lediglich am Sonntag hätten die „Ostarbeiter_innen“, also all jene, die aus der Sowjetunion kamen, zwei Stunden freie Zeit zur Verfügung gehabt, in der sie sich hätten treffen können. Dann haben sie „gesungen und geweint“, erinnert sich Nadja an die Erzählungen ihrer Mutter. Im ganzen Dorf arbeiteten Menschen aus verschiedenen Ländern. Einer von ihnen war Michał, ein Pole, mit dem Nadjas Eltern auch nach dem Krieg befreundet waren.
„Sie hat manchmal zu mir gesagt, es ist besser zu sterben als in Unfreiheit zu leben.“
Nadjas Mutter ist bereits schwanger, da unternimmt sie einen Fluchtversuch. Ihrer Tochter sagt sie später, „es [sei] besser zu sterben als in Unfreiheit zu leben.“ Tatsächlich ist die Gefahr, in einem Konzentrationslager zu enden oder erschossen zu werden, groß, sollte sie auffallen und festgenommen werden – und genau das passiert. Nur durch die Bemühungen der Bäuerin kann sie auf den Hof zurückkehren.
Überhaupt spricht Nadja sehr positiv von der Bäuerin, die immer nett zu ihrer Mutter gewesen sei. Vieles aus Nadjas Erzählung sowie den Berichten anderer Zeitzeug_innen deutet darauf hin, dass die Lebensbedingungen auf Bauernhöfen als erträglicher eingeschätzt wurden als etwa in Fabriken. Anders als beispielsweise in der Munitionsfabrik, in der die 14-jährige Ljuba zunächst eingesetzt wurde, sind die Arbeitsbedingungen auf dem Bauernhof weniger anonym und hierarchisch. Denn hier arbeiten nicht nur die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, auch der Bauer und seine Frau packen genauso mit an. Nadjas Eltern haben nicht nur das Glück, zumindest ab und zu miteinander Zeit verbringen zu können. Sie sind auch keinen lebensgefährlichen Chemikalien ausgesetzt. Bombenangriffe können sie zwar hören, aber diese zielen auf Rüstungsanlagen.
Eine bessere Situation als die anderer Zwangsarbeiter_innen heißt aber nicht, dass die Lebensbedingungen gut waren. Ansonsten wäre Nadjas Mutter vermutlich auch nicht das Risiko einer Flucht eingegangen. Aber es mag erklären, warum sie, ihr Vater und auch Nadja eine größere Chance hatten zu überleben.
Die Geburt
Der Bauer bringt Nadjas Mutter zur Entbindung in die Stadt. Nach der Geburt muss sie weiterarbeiten wie bisher; um das Kind kümmert sich die Bäuerin. Dass das Kind zumindest in räumlicher Nähe bleibt, nicht weggegeben wird oder gar stirbt, liegt vor allem am Einsatzort der Eltern.
Frauen, die in der Industrie arbeiteten, wurden oftmals zur Abtreibung genötigt. Gebaren sie doch, so sollte verhindert werden, dass sie dafür in ein deutsches Krankenhaus gebracht wurden. Die rassistische Ideologie der Nationalsozialisten teilte Kinder je nach Herkunft der Eltern in verschiedene Kategorien ein. Kinder von „Ostarbeiter_innen“ galten als „schlechtrassig“.2 Die Bemühungen sie aufzuziehen waren daher gering. Viele Kinder starben, weil sie nicht genug zu essen bekamen. In den offiziellen Dokumenten wurde dies vertuscht. Angeblich seien die Kinder „schwächlich“ gewesen, manchmal schrieb man auch, die Eltern hätten Syphilis gehabt.3 Überlebten die Kinder, konnte es passieren, dass sie an einen anderen Ort „evakuiert“ wurden und ihre Eltern sie nie wieder sahen.4 Im Gegensatz dazu zogen die auf Bauernhöfen beschäftigten Frauen aus Polen oder der Sowjetunion ihre Kinder meist bei sich auf.5
Zwar darf Nadja bei ihrer Mutter bleiben, aber selbst die Zeit nach der Befreiung durch die US-Armee bleibt eine Tortur für Mutter und Kind. Die beiden brauchen einen Monat und zehn Tage bis sie ihr Ziel in der Ukraine erreichen. Kinderkleidung besitzt die Mutter nicht, also wickelt sie Nadja in ein Tuch ein. Dem Vater ergeht es noch schlimmer. Er wird von den US-Amerikanern dazu verpflichtet, noch ein Jahr beim Wiederaufbau zu helfen. Viel darüber geredet habe er später nicht, erzählt Nadja.
Die Erinnerung bleibt – versteckt
Dafür sprechen die Eltern mit dem Kind von klein auf über die Zwangsarbeit unter den Deutschen. Ihre Mutter lässt die Frage nicht los, was der Sinn dieses Krieges gewesen sein soll. Nadja meint, „dass es so viele Opfer auf beiden Seiten gab, auch, dass viele Deutsche ihr Leben verloren haben: Das fand meine Mutter wirklich sehr bedrückend (…).“
Mit vielen Leuten konnten die Eltern allerdings nicht über das Erlebte sprechen, das Thema Zwangsarbeit ist in der Sowjetunion – und zuweilen bis heute in den Nachfolgerepubliken ein Tabu. Bis heute kämpfen zurückgekehrte Zwangsarbeiter_innen mit dem Vorwurf, für die Deutschen gearbeitet und mit ihnen kollaboriert zu haben – wie sonst hätten sie die Deportation und den Arbeitsdienst überleben können. Ausführlich schildert Ljuba diese Erfahrung des erzwungenen Schweigens – und auch ihre Angst. Nadjas Eltern finden einen eigenen Weg, das Erlebte zu verarbeiten. Regelmäßig treffen sie sich nach ihrer Rückkehr am in der Sowjetunion groß gefeierten „Tag des Sieges über Hitlerdeutschland“, dem 9. Mai, im Privaten mit ihrem polnischen Freund. Der polnische Freund Michał vom Nachbarhof in Oberelkofen, der mittlerweile in der Ukraine lebt, „[kam] und die feierten das zu Hause, indem sie sich erinnert und geweint haben. Das war für sie eher ein Gedenktag.“ Sie singen gemeinsam Lieder und noch heute ist auch für Nadja das Singen prägend. Zusammen mit anderen in Deutschland geborenen Kindern gründet sie einen Chor. Bei ihrem Besuch in Oberelkofen singt sie auch für uns.
Für Nadja ist die Erinnerung ihrer Eltern immer auch Teil ihrer eigenen Geschichte. Schon immer, erzählt sie uns, hätte sie gern einmal nach München kommen wollen. Niemand glaubte, dass dies möglich sein könnte – die Fahrt ist teuer. Die geringen Entschädigungszahlungen, die Nadja bekommen hat, würden noch nicht einmal dafür reichen. Möglich wurde der Besuch im Frühjahr 2015 schließlich durch das Engagement des Arbeiter-Samariter-Bunds (ASB).
- Leingang, Oxane: Sowjetische Kindheit im Zweiten Weltkrieg. Generationsentwürfe im Kontext nationaler Erinnerungskultur. Heidelberg 2014, S. 128. ↩
- Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des “Ausländer-Einsatzes” in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches. Berlin u.a. 1985, S. 247ff. ↩
- Frankenberger, Tamara: Wir waren wie Vieh. Lebensgeschichtliche Erinnerungen ehemaliger sowjetischer Zwangsarbeiter. Münster 1997, S. 193. ↩
- Ebd., S. 194. ↩
- Herbert, Fremdarbeiter, S. 247ff. ↩