- Die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter_innen durch die BRD
- “Meine Eltern waren Zwangsarbeiter”
- “Mein Leben war immer von Angst bestimmt.”
- Kinder und Jugendliche in Zwangsarbeit
Ljuba Belošickaja wurde 1942 mit 15 Jahren aus der Ukraine alleine, ohne ihre Familie, nach Deutschland verschleppt. Bereits im Jahr 2000 erschien die Schilderung ihrer Geschichte in Constanze Werners Interviewband „Kiew – München – Kiew“1, in dem ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Kiew ihre Geschichte erzählen. Initiiert wurde das Projekt durch das Münchner Kulturreferat und den Verein „Projekt Erinnerung e.V.“. Dank des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) Kiew hatten auch wir die Gelegenheit, im Frühjahr 2015 mit Ljuba Belošickaja zu sprechen. Die Schwerpunkte ihrer Erzählung haben sich seit ihrem ersten Interview mit Constanze Werner jedoch stark verändert. Beginnen wir mit der Geschichte, die Ljuba im Jahr 2000 erzählte.
von Marie Grünter, Michael Störk, Enno Strudthoff
Ljuba stammt von der Krim. Ihr Vater ist 1941 bei der Armee, als sie und ihre Mutter von den Deutschen von dort vertrieben werden. Nach einem zweimonatigen Fußmarsch kommen die beiden in Kiew an. Da sie in der Stadt Fremde sind, wird Ljuba vom Ältesten des Bezirks nicht angemeldet, sondern direkt zur Deportationsstelle geschickt.2 Wohin sie gebracht wird, weiß weder sie noch ihre Mutter, die zurückbleibt. Ljuba erzählt, sie sei mit fünfzehn Jahren eine der jüngsten Deportierten gewesen.
Vom Münchner Bahnhof wird sie nach Dachau gebracht, wo ihr die Haare geschoren werden. Von Dachau und dem Konzentrationslager hatte sie bereits gehört, weshalb sie glaubt, sie müsse sterben. Stattdessen wird sie von dort aus nach München gebracht, in ein „Lager mit Holzbaracken und Stacheldraht“, in dem die Gefangenen nach Nationalität aufgeteilt werden. Aus Angst von Sanktionen werden die aus der damaligen Sowjetunion verschleppten „Ostarbeiter_innen“, die in der nationalsozialistischen Hierarchie noch weiter unten stehen, von Tschech_innen und Pol_innen gemieden, was sie zusätzlich isoliert.3
Ein gefährlicher Arbeitsplatz: Die Fabrik
Gegenüber Constanze Werner schildert Ljuba sehr ausführlich ihre erste Arbeitsstelle, ein „Werk“ am jüdischen Friedhof, in dem sie Ventile mit Phosphor füllen muss. 46 Prozent der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter musste in der Industrie ähnliche Aufgaben erfüllen.4 Das gesamte Stadtbild ist geprägt von Lagern, insgesamt sind es 400.5 Die Schwerstarbeit macht Ljuba krank. Gleichzeitig lastet der Druck auf ihr, ihre Schwäche nicht zu zeigen. Andere Kranke werden abgeholt und kehren nie wieder zurück. Hilfe bekommt sie von älteren Frauen, die versuchen sie zu schützen. Schließlich hilft ihr eine Ärztin in die Gärtnerei neben dem Friedhof versetzt zu werden, wo sie frische Luft und mehr Brot bekommt als zuvor. Dieses Essen teilt sie mit den Frauen im Lager neben dem Friedhof, in dem sie nach wie vor wohnt.6 In Krankenhäuser werden gesundheitlich beeinträchtigte Zwangsarbeiter_innen wie Ljuba nur im allergrößten Notfall eingewiesen; und auch dann ist durch das Fehlen von Dolmetscher_innen eine Verständigung mit den Ärzt_innen oft nicht möglich.7
Anders als in den meisten Dörfern, wie zum Beispiel in Oberelkofen bei Nadja und ihren Eltern, ist Ljuba in der Stadt Bomben ausgesetzt. Diese sollen vor allem Munitionsfabriken wie die, in der sie arbeitet, treffen. Betriebliche wie öffentliche Schutzbunker sind den als „Ostarbeiter_innen“ bezeichneten Menschen aus der Sowjetunion verwehrt. Der Anteil von Zwangsarbeiter_innen unter Bombenopfern war daher überdurchschnittlich hoch.8 Die Angst vor den Bomben bestimmen deshalb auch die Erinnerungen vieler ehemaliger Zwangsarbeiter_innen aus den Ländern des östlichen Europas.9 Ljubas Mutter weiß nicht, was mit ihrer Tochter passiert ist. Auch das ist kein Einzelfall. Wenn die Möglichkeit besteht Briefe zu verschicken, erreichen diese die Heimat oft nicht.10
Schweigen
Nach der Befreiung 1945 geht Ljubas Odyssee weiter. Nachdem sie in die Ukraine zu ihrer Mutter zurückgekehrt ist, brechen die beiden zusammen auf in den Süden der Ukraine, nach Saporischja. Dort geht sie, wie vor ihrer Deportation, wieder in die 7. Klasse. Viele verschleppte Kinder und Jugendliche begannen sofort, die verpasste Schulbildung nachzuholen – unter jahrelangem Verzicht auf Freizeit. Dadurch hofften sie nicht weiter als „Vaterlandsverräter“ verunglimpft zu werden.11 Denn denjenigen, die in Deutschland gewesen waren und überlebt hatten, warfen Staat und Gesellschaft vor, mit dem Feind kollaboriert zu haben. Dem sowjetischen Staat war die Erfahrung der ehemaligen Zwangsarbeiter_innen nicht recht. Denn diese wussten, dass der Lebensstandard in der UdSSR nicht auf einem international so hohen Niveau war, wie dies von der Regierung behauptet wurde. Sie hätten Anlass geben können, das Funktionieren des Sozialismus und damit die gesamte Staatsideologie in Frage zu stellen. Die Rückkehrerinnen und Rückkehrer waren zudem oft dem Verdacht der Kollaboration ausgesetzt, ein Stigma, das sie lange Jahre belastet und zum (Be-)Schweigen der leidvollen Geschichte brachte. Auch wenn den meisten diese Gefahr nicht tatsächlich drohte, war die Angst davor dennoch vorherrschend.12
Diese Befürchtungen schildert auch Ljuba. „Über die Zeit in Deutschland durfte ich nie sprechen“, berichtet Ljuba, „sonst hätte ich mit meiner Biographie gar keine Chance gehabt, einen normalen Arbeitsplatz zu bekommen. Ich verschwieg alles – dass ich in Deutschland war. Nur meiner Mutter erzählte ich alles, die anderen haben das nicht mitbekommen.“13
Ljuba trägt gesundheitliche wie psychische Schäden davon – und nicht nur das: „Diese zwei Jahre haben mein ganzes Leben danach zerbrochen (…). Mein Leben war immer von Angst bestimmt, auch nachher.“ Ljuba leidet Jahrzehnte unter Schilddrüsenproblemen, Magengeschwüren und fühlt sich schuldig, für die Deutschen gearbeitet zu haben.14 Ende der 1980er Jahre, erzählt sie uns, habe sie bei offiziellen Stellen über ihre Erfahrungen sprechen wollen. Doch sie sei nicht nur abgewiesen worden, sondern ihr habe der Verlust ihrer Arbeitsstelle gedroht. Erst mit der politischen Wende 1990 erhält sie die Information, dass sie ihren richtigen Lebenslauf an die Verwaltung schicken solle, um eine Entschädigung für ihren Arbeitsdienst in Deutschland zu bekommen. Schließlich erhält sie 600 DM, eine Summe, die sie empört – sie reiche noch nicht einmal, um noch einmal nach München zu reisen.15
Eine andere Erzählung der Geschichte
Das, was Ljuba uns über ihre Zeit in München erzählt, hört sich wie eine Geschichte an, die nichts mit derjenigen zu tun hat, die sie Constanze Werner anvertraut hat. Ihre Erlebnisse erscheinen heute viel positiver. Über München sagt sie: „Ach ist das schön da. Ich sehe das noch vor meinen Augen.“16 Auf die gesundheitsschädliche Arbeit in der Fabrik angesprochen wiegelt sie ab – dort sei sie nur sehr kurz gewesen. Die meiste Zeit habe sie im Haushalt einer wohlhabenden Frau verbracht, einer Ärztin. „Es war eine gute Zeit und ich hatte eine sehr gute Hausherrin.“17 Eine ihrer Freundinnen in München sei von ihrer „Hausherrin“ geschlagen worden, das habe sie nicht erleiden müssen.
Ljuba ist nicht die einzige ehemalige Zwangsarbeiterin, die ihre Geschichte ins Positive kehrt. Denn für Rückkehrer_innen ist die Erinnerung an das Geschehene eine Mehrfachbelastung: Sie durften lange Zeit nicht über ihr Leid reden und begannen in der Folge vielfach an ihren eigenen Erinnerungen zu zweifeln. Hinzu kommt, dass Situationen im Alltagsleben nach der Rückkehr die Erinnerung an die Zwangsarbeit unvermittelt wieder wach rufen können. Ausgelöst werden kann dies beispielsweise durch Gerüche oder Gegenstände.18 Zur Verarbeitung dieser Traumata schildern die Betroffenen daher oft ausführlich gute Erlebnisse.19 Hinzu kommt, dass die Zeit der Zwangsarbeit für viele der einzige Auslandsaufenthalt ihres Lebens war, weshalb sie sich teilweise mit dem Ort ihrer Zwangsarbeit verbunden fühlen.20
- Werner, Constanze: Kiew – München – Kiew. Schicksale ukrainischer Zwangsarbeiter. München 2000. ↩
- Werner, Kiew – München – Kiew, S. 27f. ↩
- Werner, Kiew – München – Kiew, S. 28f. ↩
- Leingang, Oxane: Sowjetische Kindheit im Zweiten Weltkrieg. Generationsentwürfe im Kontext nationaler Erinnerungskultur. Heidelberg 2014, hier: S. 128. ↩
- Heusler, Andreas: Zwangsarbeit und Entschädigung – Ein offenes Kapitel deutscher Geschichte?, in: Werner, Kiew – München – Kiew, S. 11. ↩
- Werner, Kiew – München – Kiew, S. 31f. ↩
- Frankenberger, Tamara: Wir waren wie Vieh. Lebensgeschichtliche Erinnerungen ehemaliger sowjetischer Zwangsarbeiter. Münster 1997, hier: S. 182ff. ↩
- Ebd., S. 32. ↩
- Leingang, Sowjetische Kindheit im Zweiten Weltkrieg, S. 151f. ↩
- Frankenberger, Wir waren wie Vieh, S. 65. ↩
- Leingang, Sowjetische Kindheit im Zweiten Weltkrieg, S. 163. ↩
- Leingang, Sowjetische Kindheit im Zweiten Weltkrieg, S. 165f. ↩
- Werner, Kiew – München – Kiew, S. 34. ↩
- Ebd., S. 36. ↩
- Ebd., S. 37. ↩
- Interview mit Ljuba Belosickaja, 27.02.2015, Kiew. ↩
- Ebd. ↩
- Leingang, Sowjetische Kindheit im Zweiten Weltkrieg, S. 133. ↩
- Ebd., S. 158. ↩
- Ebd., S. 140ff. ↩