Die Dachauer KZ-Häftlinge, die im letzten Kriegsjahr beim Bombensuchkommando Stielerschule in München Bomben entschärfen mussten, balancierten täglich zwischen Leben und Tod. Die Geschichte von Franz Brückl, einem Überlebenden, lässt mich die Rolle überdenken, die die Vergangenheit auch in der Gegenwart noch spielt.1
von Egor Trawkin
Wir alle beschäftigen uns zuweilen mit dem Gedanken an den Tod und seiner Bedeutung. Das ist wichtig für uns, und die Grenzen die wir dabei ziehen, bestimmen unseren Horizont auf ihre ganz eigene Weise. Vor einigen Wochen wurde ich mit dem Leben eines anderen Menschen konfrontiert und sah mich selbst daraufhin mit diesen Fragen konfrontiert. Die Schlüsse, die ich daraus zog, überraschten auch mich selbst.
Das Bombensuchkommando
In meinen Recherchen untersuche ich die Lebens- und Leidensgeschichte von Frank Brückl, der ein Teil des berüchtigten Münchner Bombensuchkommandos gewesen ist, welches aus den Gefangenen des Dachauer Konzentrationslagers zwangsrekrutiert wurde. Obgleich verstorben, begegnete er mir auf Fotos, in Ausstellungen und ganzen Kapiteln historischer Abhandlungen. Je mehr ich recherchierte, desto öfter stieß ich auf diese eine Person. Franz Brückl verbrachte unzählige Tage als Mitglied des Bombenentschärfungskommandos in der Münchner Stielerschule, welches auch als die „Dachauer Hundertschaft“ bekannt war. Brückl wurde im Frühjahr 1940 in polnischen Posen von der SS verhaftet und überlebte bis zur Befreiung der Gefangenen aus dem Konzentrationslager Dachau. Viele seiner Kameraden hatten nicht das Glück. Oft wurden sie von den Bomben getötet, die sie unter Zwang entschärfen mussten. Die Sterberate bei den Einsätzen des Bombensuchkommandos belief sich durchschnittlich auf 15 Personen täglich. Die Opfer der Detonationen starben einen grausamen Tod und 1wurden von der Lagerleitung des KZ Dachau schon am Abend desselben Tages durch andere Insassen ersetzt. Franz Brückl überlebte über ein Jahr im Einsatz. Er überlebte 246 Bomben.
Das Interview
Mit zwei Tafeln Edelschokolade im Gepäck und Aufregung im Nacken betrete ich die Schwelle des historischen Bienenhauses der ehemaligen Lagerplantage. Wenn es mir nicht mitgeteilt worden wäre, hätte ich dieses bewachsene Holzhäuschen auf dem heutigen Betriebsgelände für ein Pausenhaus für Mitarbeiter gehalten. Tatsächlich ist es das Vereinshaus von Prof. Dr. Hönle und Frau Lücking, meinen heutigen Interviewpartnern. Ihr Verein „zum Beispiel Dachau – Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung der Dachauer Zeitgeschichte e.V.“ hat das Ziel, die Rolle Dachaus und des dortigen Gefangenenlagers während des Nationalsozialismus sowohl aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger der Stadt, als auch aus der Sicht der Lagerhäftlinge und ihrer Peiniger zu beleuchten. Der Verein beschäftigt sich mit der Erschließung historischer Quellen, veranstaltet Foren, Diskussionen, Führungen und Seminare und gibt eigene Publikationen heraus.
Auch Franz Brückl hatte enge Verbindungen zu dem Verein: Durch seine Mitwirkung konnte die Vereinsleitung 1989 eine Gedenktafel für das Bombensuchkommando in der Stielerschule errichten, welche bis heute an die Geschichte der Räumlichkeiten und das Martyrium der KZ-Gefangenen während des NS-Regimes erinnert. Frau Lücking ist an dem Tag freundlicherweise mit dabei. Sie war eine sehr enge Freundin von Franz Brückl, zudem auch seine langjährige Betreuerin. Brückl ist nach seiner Befreiung vor Ort geblieben. Hier heiratete er, zog Kinder heran, verbrachte seinen Lebensabend, fand seine letzte Ruhe. Allein schon dieser Umstand übte auf mich eine gewisse Faszination aus. Es gehört viel dazu, dem Ort der eigenen Peinigung nicht den Rücken zu kehren, Versöhnung statt Rache zu suchen, zu vergeben, oder es zumindest zu versuchen.
Ich kam anfänglich mit der pragmatischen Absicht, objektiv und sachlich an Informationen zu kommen – ich wollte qualitatives Material zur Auswertung, Untersuchung, Präsentation. Doch die Erinnerungen und die Anekdoten aus dem Leben von Franz Brückl, die Frau Lücking erzählte, zeigten ihn vielmehr als Persönlichkeit. Franz Brückl war auf einmal nicht mehr das Objekt der Forschung, sondern ein ganz lebendiger Mensch mit all seinem Leid, seinem Mut, seinen Freuden und seinen festen Prinzipien.
Wenn die Stochastik versagt, muss man an etwas glauben
Laut den Erzählungen meiner Interviewpartner sah Franz Brückl sich beinahe täglich mit dem fast sicheren Tod konfrontiert. Doch tat er es stets mit einem unfassbaren Mut, einer ungeahnten Leichtigkeit und einem standfesten Optimismus. Zweihundertsechsundvierzig Bomben wurden von ihm entschärft, jedes Mal verspürte er den schmalen Grad zwischen Leben und Sterben. 246 Mal lernte er das Leben als den kurzen Moment der Abwesenheit vom Tod kennen, Tag für Tag. Irgendwann hörte Brückl auf zu fragen, warum er noch lebte, er machte seine Arbeit einfach. Er war sich selbst nicht sicher, ob es Gott, die Vorsehung, seine eigene Gründlichkeit oder schlichtweg Glück war. Als der Tag kam, an dem er seine 247-te Bombe entschärfen sollte, bekam er Angst, die Schwelle schien ihm auf einmal erreicht. Er weigerte sich, die Bombe zu entschärfen, erntete Spott dafür, blieb der darauffolgenden Explosion fern. Leben und Tod lagen so nah beieinander, sekundenschnelle Entscheidungen bestimmten tagtäglich Franz Brückls Zukunft. Das Leben auf Abruf, wie eine geworfene Münze, die jederzeit anders fallen könnte, selbst wenn diese auf eine unerklärliche Weise 246-mal hintereinander auf dem Kopf landen sollte.
Was bleibt
Am Ende war es nicht nur erfolgreich generiertes Forschungsmaterial. Es war eine tiefere und dennoch allzu banale Erkenntnis: Es reicht nicht, die Vergangenheit festzuhalten, sie zu katalogisieren. Die Vergangenheit nicht zu vergessen setzt vielmehr aktives Tun voraus. Prof. Dr. Hönle und Frau Lücking waren sehr froh, dass wir uns so sehr für das Leben von Franz Brückl interessieren und sind auf die Ergebnisse unseres Projekts gespannt. Dahinter verbirgt sich sicher auch das Bedürfnis, dass die Personen, die einem nahe waren, nicht in Vergessenheit geraten. Erst dann wäre deren Vergangenheit mit all ihren wichtigen Lektionen vergessen. An diesem Abend wurde es auch mir ein Anliegen, die Geschichte von Franz Brückl und dem Bombensuchkommando zu erhalten. Auf einmal fühlte ich, was keine Forschungsanleitung mir nahebringen konnte – Verantwortung für etwas, was war und immer noch fortdauert, als Nachlass, als eine Lehre an uns Lebende. Franz Brückl lehrte mich etwas, wonach ich nicht gefragt hatte. Und dafür bin ich ihm dankbar.
- Dieser Text basiert auf einem Interview mit dem Verein „Zum Beispiel Dachau“, 15. Mai 2015, Dachau. ↩