von Ekaterina Makhotina und Marketa Spiritova
1945 – 2015: Zum 70. Mal jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges, des zweifellos schmerzvollsten Kapitels der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Ihm sind unterschiedliche Personengruppen zu Opfer gefallen – ihre Aufzählung, Kategorisierung und Einordnung in den deutschen Erinnerungsdiskurs würde mehrere (Web-)Seiten füllen. Uns ging es im vorliegenden Studierendenprojekt um jene von ihnen, die sich noch immer am Rande des öffentlichen Gedenkens befinden: um Menschen aus dem östlichen Europa, die als KZ-Häftlinge, Ghetto-Insassen oder verschleppte „Ostarbeiter“ und „Ostarbeiterinnen“ als Arbeitskräfte für die deutsche Rüstungsindustrie ausgebeutet wurden. Es ging uns um junge Männer und Frauen, die im letzten Kriegsjahr aus Ungarn und Griechenland, Litauen und Tschechien, ja aus allen Staaten Ostmitteleuropas und aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion zur Zwangsarbeit nach München deportiert wurden.
In der regionalgeschichtlichen Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur und Gewalt scheint diese Verbindung zwischen dem deutschen Vernichtungskrieg im Osten und dem Einsatz der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in München und Umgebung nicht sofort präsent zu sein. Nimmt man sich aber konkrete Orte vor, wie die des Außenlagerkomplexes Dachau, wird der Zusammenhang augenfällig: Durch den massenhaften Einsatz der deportierten KZ-Häftlinge zur Schwerstarbeit in der Waffen-, Rüstungs- und Bauindustrie in den Produktionsstätten des Außenlagers versprach sich die NS-Führung, doch noch der Niederlage zu entgehen. Man ließ die jüdischen KZ-Häftlinge, die bislang die Verfolgung, Massenexekutionen und KZ-Haft überlebt hatten, nach München transportieren, um sie hier als Arbeitssklavinnen und Arbeitssklaven für die NS-Kriegswirtschaft einzusetzen. Die meisten starben an Mangelernährung, Erschöpfung, menschenverachtenden Haftbedingungen und Krankheiten.
Im Kontext des Zweiten Weltkrieges, konkreter – des deutschen Vernichtungskrieges im Osten, ist die Präsenz einer weiteren Opfergruppe zu sehen – der so genannten „Ostarbeiter“, Polen und Bürger der Sowjetunion, die in den Jahren 1943 bis 1944 aus den besetzten Gebieten zur Zwangsarbeit verschleppt wurden. Sie schufteten in den Zwangsarbeitslagern für die Reichsbahn, auf deutschen Bauernhöfen, in Betrieben jeder Art – von Munitionsfabriken bis zu Heilkräutergärten. Der besondere Erlass schrieb vor, die „Ostarbeiter“ wie Gefangene zu behandeln. Diese aufgrund der gesetzlich „vorgeschriebenen“ Diskriminierung besonders leidvolle Erfahrung der Kriegsmonate in Münchner Umkreis wirkte bei Menschen aus Polen, Belarus‘, Russland und der Ukraine lebenslang nach. Diese Opfergruppe „verschwand“ nach dem Krieg hinter dem erinnerungskulturellen Eisernen Vorhang, und bis heute gibt es bei der Veröffentlichung der polnischen, russischen, belarussischen und ukrainischen Erinnerungen einen großen Nachholbedarf.
Noch etwas anderes erschwerte das Erinnern an die Opfer aus dem östlichen Europa auf lokaler – städtischer oder regionaler – Ebene: die unmittelbare Nachbarschaft des Grauens und die Komplizenschaft der einheimischen Bevölkerung an der Zwangsarbeit, sei es in den Produktionsstätten der Außenlagerkommandos oder auf dem eigenen Bauernhof. Der Weg der Erinnerung war lang und schwierig – und ist bis heute nicht zu Ende, wie die hier veröffentlichten „Leerstellen“ aufzeigen.
Studierende des Masterstudiengangs „Osteuropastudien“ der LMU München und der Universität Regensburg haben im Rahmen eines zweisemestrigen Projektkurses in kleineren Teams sieben solcher Leerstellen, das heißt sieben wenig bekannte Orte der NS-Gewalt und Zwangsarbeit, mit geschichtswissenschaftlichen und ethnografischen Methoden untersucht. Dabei ging es neben der Rekonstruktion der historischen wie symbolischen Orte vor allem um die Wahrnehmungs- und Erinnerungsgeschichte, darum, einige dieser Orte der NS-Gewalt an den Menschen aus der Ukraine, Russland, Litauen, Ungarn und anderen Staaten des östlichen Europas aufzuspüren und nach ihrer Rolle in der lokalen Erinnerungslandschaft zu fragen. Im Vordergrund standen Fragen nach den medialen Repräsentationen vor Ort wie Ausstellungen, Denkmälern und Gedenkstätten, nach den rituellen Praktiken der Erinnerungsarbeit wie Trauermärschen und Gedenkfeiern, nach den Akteurinnen und Akteuren, die sich für die Erinnerung an diese Menschen und Orte engagieren, aber auch nach den Konfliktfeldern zwischen Lokalpolitik und gesellschaftlichen Engagement.
Die konkreten (Erinnerungs-)Orte und Themen sind: Die KZ-Außenlager Kaufering VII bei Landsberg/Erpfting und Utting in Utting am Ammersee; das Zwangsarbeitslager Neuaubing in München-Neuaubing; das Heeresmunitionsdepot „MUNA“ in Hohenbrunn; das Bombensuchkommando des KZ Dachau mit Zentrale in der Münchner Stielerstraße; Kinder in der Zwangsarbeit; weibliche jüdische Gefangene in den Kauferinger Lagern und als „asozial“ stigmatisierte Frauen im so genannten Dachauer „Lagerbordell“.
Den einzelnen Teilprojekten sind zwei einführende Texte vorangestellt. Ekaterina Makhotina führt in die Thematik der Orte der NS-Verbrechen im bundesdeutschen politischen Gedächtnis ein und fragt nach den Gründen für den besonders langen und schwierigen Weg der Opfer aus dem östlichen Europa in die bundesdeutsche Erinnerungskultur. Marketa Spiritova stellt den Prozess des Studierendenprojekts von der Fragestellung über die theoretischen und methodischen Zugänge, die Auswahl der Orte und ihrer Beschreibung und Darstellung auf der von den Studierenden gemeinsam mit dem Gestaltungsbüro Kontrastmoment gestalteten Homepage vor. In den Ausführungen des Einführungstextes geht es dabei auch um die den Prozess begleitenden reflexiven Überlegungen und methodischen Herausforderungen, schließlich um die Diskussion offener Fragen.
Dieses Studierendenprojekt wäre ohne die Unterstützung vieler Menschen „aus dem Feld“, das heißt den engagierten Erinnerungsaktivisten und Lokalhistorikern, den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie den Politikerinnen und Politikern vor Ort nicht realisiert worden. Wir hoffen mit unserer Homepage auch ihre Arbeit ein Stück weit zu bereichern. Unser größter Dank gilt dabei Jürgen Zarusky vom Institut für Zeitgeschichte – München, ohne dessen Kompetenz, Fachberatung und interessierte Begleitung das Projekt nicht möglich gewesen wäre. Ein großer Dank geht auch an unsere Kolleginnen und Kollegen aus den wissenschaftlichen Instituten, die uns mit ihrer fachlichen Expertise zur Seite standen sowie allen unseren Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern, die dem Projekt aufgeschlossen und interessiert begegneten und als Zeitzeugen und/oder Erinnerungsaktivisten über ihre Arbeit und ihr Engagement an den jeweiligen Orten mit uns sprachen: Sabine Schalm, Andreas Heusler, Edith Raim, Dirk Riedel, Eva Strauß, Annette Eberle, Anton Posset, Albert Knoll, Abba Naor, Sabine Zarusky, Helga und Manfred Deiler, Sonia Fischer, Ulrich Fritz, Gerhart Roletschek, Thorsten Dressler, Stefan Straßmair, Rudolf Wenzel, Elsbeth Bösl, Ehepaar Weißhaar, Josef Lutzenberger und Gemeinde Utting, Gertrud Feinstein, Elisabeth Burghart, Ulrich Fitz, die Künstler_innen und Handwerker_innen des Vereins Freie Ateliers und Werkstätten Ehrenbürgstraße (FAUWE e.V.) in Neuaubing und vielen vielen anderen.
Diese interaktive Karte ist das Ergebnis eines Projektkurses im Rahmen des Elitestudiengangs Osteuropastudien, der uns auch finanziell gefördert hat. Das Kulturreferat der Landeshauptstadt München hat uns bei der Bewerbung der Veranstaltung maßgeblich unterstützt. Dafür sei an dieser Stelle gedankt, sowie auch Julia Lechler und Sigita Ngoue für die Koordinierung der Verwaltungsaufgaben und Natalie Kronast für die Einführung ins Projektmanagement.
Dieser Artikel ist Teil der Serie: Allgemein