- Zwischen Hippierefugium und Erinnerungsort
- Vom Zwangsarbeitslager zur Künstlerkolonie
- „Wir hatten immer Hunger“ – NS-Zwangsarbeit in München-Neuaubing
- Die vielen Ebenen der Geschichte
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs interessierte sich kaum jemand für die Geschichte des ehemaligen Zwangsarbeitslagers in Neuaubing. Als die damalige Eigentümerin, die Bahn, in den 1980er Jahren keine Verwendung mehr für das Gelände hatte, siedelten sich dort Künstlerinnen und Künstler an. Diese begannen den Ort auf einzigartige Weise zu nutzen.
von Lukas Eichner, Lisa Füchte, Anke Oehler
Für einen Handwerker wie Georg Eichinger gleicht die Ehrenbürgstraße 9 einem Dornröschenschloss. Ein seltener Ort in einer so überlaufenen Stadt wie München: Das Gras ist hoch gewachsen, Baumaterial steht herum und im großen Innenhof werkeln die Nutzerinnen und Nutzer. Die Mieten sind günstig und es gibt niemanden, der sich wegen des geordneten Chaos auf dem Gelände beschwert. Niemanden, der sich an dem Lärm der Geräte stört. Georg Eichinger mag den Ort, besonders weil er nicht in das Bild des modernen und zugebauten Münchens passt.1
Die verschwiegene Geschichte
Die Ateliers und Werkstätten auf dem Gelände sind in Baracken untergebracht, die von 1942 bis 1945 zu einem Zwangsarbeitslager der Reichsbahn gehörten. Nach dem Krieg setzte die amerikanische Verwaltung in München zunächst eine ambitionierte Entnazifizierungspolitik durch. Der Kalte Krieg hatte jedoch negative Folgen für die Aufarbeitung der Verbrechen der Nationalsozialisten in der ehemaligen „Hauptstadt der Bewegung“. Auch in der Nachkriegspolitik trat eine Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nationalsozialisten in den Hintergrund.2 Die Orte der NS-Verbrechen sollten möglichst schnell wieder verschwinden. Der 1945 eingesetzte Bürgermeister von München und Mitbegründer der CSU Wilfried Scharnagl wollte, dass „wir in einigen Jahrzehnten unser liebes München wieder haben, wie es war.“3 Und so wurde auch das Zwangsarbeitslager in Neuaubing nicht zu einem Erinnerungsort.
Kurz nach dem Krieg wurde der Komplex kurzzeitig für Unterbringung von Zivilpersonen, die von NS-Deutschland zur Zwangsarbeit oder anderen Gründen verschleppt wurden, genutzt. Anschließend brachte die Bahn, die das Gelände von der Reichsbahn übernahm, dort ihre Lehrlinge unter.4 Als sie Anfang der 1980er Jahre keine Verwendung mehr für den Komplex hatte, vermietete sie die Baracken zu günstigen Konditionen. Und so kam auch Georg Eichinger 1984 zu einem Mietvertrag und richtete sich eine Steinmetzwerkstatt auf dem Gelände ein.
Dass es sich um ein ehemaliges Zwangsarbeitslager handelte, sei damals ein offenes Geheimnis gewesen. Auch Georg Eichinger wusste über die Geschichte des Ortes Bescheid. Er erinnert sich, dass den damaligen Bewohnerinnen und Bewohnern „von Seiten der Stadt“ geraten wurde, „bloß nichts von dem Thema zu erzählen.”6 Trotz einer aktiveren gesellschaftlichen Diskussion über die Zeit des Nationalsozialismus und den Holocaust seit Mitte der 1980er Jahre wurden Zwangsarbeit und die Orte der Zwangsbeschäftigung in München kaum thematisiert.
Ehrenbürgstraße 9 – Ein Freiraum für Individualist_innen
Die günstigen Konditionen und die gute Lage lockten immer mehr Bewohnerinnen und Bewohner an und so entstand eine bunte Gruppe von Kunstschaffenden, Handwerkerinnen und Handwerkern. Die Bahn nutzte das Gelände schon seit 1987 nicht mehr und überließ die Mieterinnen und Mieter sich selbst. Sie hatten freie Hand und das Gelände wurde zu einem künstlerischen Freiraum. Georg Eichinger erinnert sich an eine „anarchistische Zeit.“7 Das Gelände selbst wurde zu einem Atelier unter freiem Himmel umfunktioniert, auf dem auch ungewöhnliche Kunstwerke ihren Platz fanden.
Die Geschichte kommt zurück
Georg Eichinger empfand das Jahr 2000 als einschneidende Zäsur: Es gab immer mehr Streitigkeiten über die Zukunft des Barackenkomplexes und einige aktive Nutzerinnen und Nutzer verließen das Gelände. Viele gründeten Familien und die ausschweifenden Feiern wurden seltener. Außerdem siedelten sich schon in den 1980er Jahren eine Kinder- und Jugendfarm und ein Kindergarten auf dem Gelände an. Das beeinflusste die Nutzerstruktur auf dem Gelände. Der Ort der Freigeistigkeit entwickelte sich zu einem Familienidyll am Stadtrand. Auch die städtischen Entwicklungen brachten Veränderung in die Ehrenbürgstraße 9. München erlebte einen Aufschwung, die Wohnungspreise stiegen und das Gelände rückte in den Fokus von Investorinnen und Investoren. Auch die Aufarbeitung der NS-Geschichte wurde ab den 1990er Jahren vermehrt betrieben. Die Nutzerinnen und Nutzer begannen sich in eigenen Arbeiten mit der nationalsozialistischen Vergangenheit des Ortes auseinander zu setzen. Es dauerte aber noch einige Zeit, bis auch die Stadt München die historische Bedeutung des Ortes erkannte. Die Künstlerinnen und Künstler waren daher lange Zeit die Einzigen, die sich für die Geschichte des Ortes interessierten.
- Interview mit Georg Eichinger, 02.03.2015, Neuaubing. ↩
- Nerdinger, Winfried: Der Umgang mit der „zerlumpten“ Vergangenheit Münchens. In: Ders. (Hg.): München und der Nationalsozialismus, München 2015, S. 548-556, hier S. 549. ↩
- Ebd. ↩
- Schalm, Sabine: Unveröffentlichtes Historisches Gutachten zum Barackenlager in der Ehrenbürgstraße/Neuaubing 2008, S. 6. ↩
- Festgehalten im Fotoalbum von Georg Eichinger. ↩
- Interview mit Georg Eichinger, 02.03.2015, Gauting. ↩
- Ebd. ↩
- Festgehalten im Fotoalbum von Georg Eichinger. ↩
- Deutsche Bahn
- Ehrenbürgerstaße
- Künstler
- München
- Nationalsozialismus
- Neuaubing
- NS-*
- Zwangsarbeiter
- Zwangsarbeiterinnen
- Zwangsarbeiterlager