- Zwischen Hippierefugium und Erinnerungsort
- Vom Zwangsarbeitslager zur Künstlerkolonie
- „Wir hatten immer Hunger“ – NS-Zwangsarbeit in München-Neuaubing
- Die vielen Ebenen der Geschichte
An der Neuaubinger Ehrenbürgstraße befand sich von 1942 bis 1945 eines von über 400 NS-Zwangsarbeitslagern im Großraum München. Die Häftlinge mussten im nahe gelegenen Ausbesserungswerk der Reichsbahn arbeiten. Ivan Hont, einer der letzten Überlebenden, berichtet über seine Deportation aus der Ukraine und die katastrophalen Lebensumstände für die überwiegend aus Osteuropa verschleppten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter im Lager.
von Lukas Eichner, Lisa Füchte, Anke Oehler
Ivan Hont spricht eine Mischung aus Russisch und Ukrainisch. Er wurde 1929 in Jevmynka, einem Dorf in der Nähe von Kiew geboren und hat 48 Jahre seines Lebens gearbeitet: zuerst in Deutschland, als er vierzehn war, später bei einer Gleisbaustelle im Donezbecken, als Maschinist bei der sowjetischen Armee, als Filmvorführer, als Förster und zuletzt als Wachmann in einer Fabrik. Jetzt ist er in Rente und lebt wieder in seinem Heimatdorf.1
Wenn er von seinem Leben erzählt, kommt er immer wieder auf den Hunger zu sprechen, den er erlitten hat. Das erste Mal während der großen Hungersnot in der Sowjetunion, als er und seine Familie sich von Pflanzen ernähren mussten, weil es kein Brot gab. Millionen von Menschen verhungerten in den Jahren 1932 und 1933 aufgrund von Missernten und Getreiderequirierungen durch die sowjetische Verwaltung. Die ländliche Ukraine war besonders davon betroffen, weil sich die dortige Bevölkerung massiv gegen die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft zur Wehr setzte. Stalin missbrauchte den Hunger als Instrument, um ihren Widerstand zu brechen und seine Herrschaft zu festigen.3
Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg
Als NS-Deutschland den Krieg gegen die Sowjetunion begann, war Ivan Hont zwölf Jahre alt. Der 22. Juni 1941 fiel auf einen Sonntag und die Flugzeuge, die Kiew bombardierten, weckten ihn und seine Familie.4 Kiew wurde am 19. September von der Wehrmacht eingenommen. Nur wenige Tage danach erschossen Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei in der Schlucht Babij Jar über 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder. Es ist die größte einzelne Mordaktion an Jüdinnen und Juden während des Zweiten Weltkriegs.
In den besetzen ukrainischen Gebieten wurde fast die gesamte verbliebene jüdische Bevölkerung durch solche Erschießungen vernichtet, oft mit der Unterstützung der Wehrmacht sowie auch der ukrainischen Bevölkerung. Widerstand gab es nur von sowjetisch gelenkten Partisanengruppen. Die Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer kollaborierte anfangs mit den nationalsozialistischen Besatzern. Einige versprachen sich davon einen ukrainischen Nationalstaat unter deutschem Protektorat. Viele hofften auf eine Besserung der Lebensumstände und eine Reprivatisierung der Landwirtschaft.5 Diese Hoffnungen erfüllten sich nicht. Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten war nicht zuletzt ein Ernährungskrieg. Die Wehrmacht musste vom besetzten Land und auf Kosten der lokalen Bevölkerung versorgt werden. Die Requirierungen von Lebensmitteln wurden fortgesetzt und in der Folge mussten die Menschen Hunger leiden. Nach den ersten Monaten hatte sich das Verhältnis zur Besatzungsmacht in den ukrainischen Gebieten deutlich verschlechtert.
Deportation nach Deutschland
Der Krieg dauerte länger, als es die Nationalsozialisten erwartet hatten. Die Soldaten an der Front fehlten in der heimischen Produktion. Die NS-Führung löste für sich das Problem des Arbeitskräftemangels durch die Verschleppung von Männern und Frauen aus den besetzten Gebieten. Vor allem nach der Kriegswende von Stalingrad im Winter 1943 wurden sehr viele Menschen aus dem östlichen Europa gegen ihren Willen deportiert und mussten Zwangsarbeit in deutschen Betrieben leisten. Im Sommer 1943 wurde auch Ivan Hont gemeinsam mit seiner Familie und den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern von Jevmynka unter Bewachung in ein Lager bei Kiew gebracht. Wer sich wehrte oder zu fliehen versuchte, wurde erschossen. Ivan Hont und sein Vater wurden in einen Güterwaggon gepfercht, der so voll war, dass die Insassen nur abwechselnd schlafen konnten.6
Einen Monat lang fuhr der Deportationszug nach Süddeutschland. Ivan Hont erinnert sich, dass er keine Angst hatte: „Es war ein Abenteuer für mich. Aber mein Vater und die anderen älteren Menschen haben sich Sorgen gemacht. Sie ahnten, dass wir nach Deutschland gebracht werden. Niemand wusste, was mit uns wird.“7 Gemeinsam mit seinem Vater kam er nach München: zuerst nach Eggarten, in ein Lager des Reichsbahnausbesserungswerks in Freimann. Als das Werk infolge von Bombardierungen schwer beschädigt wurde, verlegte man sie beide nach Neuaubing in das Lager an der Ehrenbürgstraße, das zum dortigen Ausbesserungswerk gehörte.
Neuaubing
Die Reichsbahn spielte eine zentrale logistische Rolle im Kriegsgeschehen sowie in der NS-Vernichtungsmaschinerie. München war ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt und die Reichsbahn einer der größten örtlichen Arbeitgeber. Die beiden Ausbesserungswerke in Neuaubing und Freimann waren mit Reparaturarbeiten8 und der Anfertigung wichtiger Sonderzüge9 betraut und galten damit als kriegswichtige Betriebe. Das machte sie zu bevorzugten Einsatzorten für Zwangsarbeit: Im Frühjahr 1942 teilte Fritz Sauckel, der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz und damit Hauptverantwortlicher für Verschleppung und Ausbeutung von Millionen von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, dem Freimanner Ausbesserungswerk hundert ausländische Arbeitskräfte zu, die in Barackenlagern untergebracht wurden.10 Im Herbst desselben Jahres reichte die Reichsbahn einen Bauantrag für ein Barackenlager in der Ehrenbürgstraße in Neuaubing ein.11 Nach nur drei Monaten war das Genehmigungsverfahren abgeschlossen.12
Der Bauplan des Lagers zeigt elf Baracken mit einer Wachmannschafts-, Sanitäts-, Wasch-, Wirtschafts- und Werkstättenbaracke sowie sechs Unterkunftsbaracken. Laut Plan war darin Platz für je 54 Menschen vorgesehen, insgesamt also für 312 Gefangene. Laut Ivan Hont hätten in jeder Baracke jedoch mindestens 80 Menschen leben müssen: Das Lager war damit deutlich überbelegt. Da der Großteil der Insassen aus der Ukraine, Russland und Belarus kam, wurde es in der Nachbarschaft „Russenlager“ genannt.
Eine Anwohnerin erzählt, einige Frauen aus der Umgebung hätten manchmal gekochte Kartoffeln über den Zaun geworfen, weil die Lagerinsassen so ausgehungert waren.13 Die tägliche Verpflegung bestand, wie sich Ivan Hont erinnert, aus einem halben Liter Suppe mit etwas Gemüse und einer Scheibe Brot für jeden. Auch wenn die Häftlinge bemüht waren, die Rationen gerecht untereinander zu teilen, satt wurde keiner: „Wir waren hungrig, wir wollten immer essen. Aber wir sind nicht vor Hunger gestorben.“14 Manchmal wurden sie für kleine Hilfsarbeiten bei Anwohnerinnen verpflichtet und konnten sich etwas Lebensmittel oder Brotmarken dazuverdienen. Einen Lohn erhielten sie aber nicht dafür. Zwangsarbeit fand also nicht nur vor den Augen der zivilen Bevölkerung statt, sondern diese profitierte auch im Alltag massiv von der Ausbeutung.
1943 arbeiteten im Ausbesserungswerk Neuaubing bereits über 800 ausländische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie Kriegsgefangene.15 Laut Ivan Hont gab es nur sonntags frei. Die restlichen Tage mussten die Insassen für einen geringen Lohn schuften. Jeden Morgen wurden sie in Kolonnen und vom Lagerpersonal bewacht zum Werk geführt. Dort gab es eine Stempeluhr, und wer zu spät kam, wurde bestraft. Die Strafen reichten von Geldbußen über Sonderarbeiten während der Freizeit hin zu Arrest bei verminderter Verpflegung.16 Misshandlungen waren alltäglich und bei den Luftangriffen der Alliierten auf das Werk mussten die Lagerinsassen unter Lebensgefahr die Brände löschen.17
Was bleibt
Die Deutsche Bahn AG versteht sich nach eigenen Angaben nicht als Rechtsnachfolgerin der Reichsbahn.18 Damit entzieht sie sich der juristischen Verantwortung für Mord, Verschleppung und Zwangsarbeit von Millionen von Menschen. Eine Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte der Reichsbahn fand bisher nur oberflächlich und auf Druck der Öffentlichkeit statt. Konzernchef Hartmut Mehdorn sieht das anders: „Wir haben uns, im Vergleich mit anderen großen Unternehmen, geradezu vorbildlich mit unserer Vergangenheit beschäftigt.“ Er verweist auf die Entschädigungszahlungen der Bahn.19 1999 hatte sie sich mit einem „mehrstelligen Millionenbetrag“ an der Stiftung “Erinnerung, Verantwortung und Zukunft” beteiligt.20 Auch Ivan Hont hat etwas erhalten.
München wurde am 30. April 1945 von der US-Armee eingenommen. Für Ivan Hont und seinen Vater eine Erleichterung. Zum ersten Mal konnten sie sich satt essen. „Es gab so viel, dass wir den Deutschen etwas abgegeben haben.“21
Nach Kriegsende dauerte es noch einen Monat, bis er in die Ukraine zurückkehrte. Unterwegs wurde er von seinen Vater getrennt und schlug sich alleine nach Hause durch. Am 20. September 1945 kam er schließlich an und fand dort seinen Vater wieder.
Ivan Hont hat keine Dokumente aus seiner Zeit in Deutschland, nur eine Fotografie, die ihn als Vierzehnjährigen in Eggarten zeigt. Er wirft einen Blick darauf und sagt: „Wir waren ja ohne Sorgen damals.“ Erst später sagt er leise: „Von den schlimmsten Sachen habe ich nicht erzählt. Das meiste habe ich wohl vergessen. Aber manchmal kann ich nachts nicht schlafen, weil ich mich doch erinnere und sich mir der Kopf dreht.“22
- Interview mit Ivan Hont, 30.09.2012, Jevmynka. ↩
- Quelle: Privatbesitz, mit freundlicher Genehmigung von Andreas Heusler. ↩
- Simon, Gerhard: Holodomor als Waffe. Stalinismus, Hunger und der ukrainische Nationalismus. In: Osteuropa 12/2004, S. 37–56. ↩
- Interview mit Ivan Hont, 30.09.2012, Jevmynka. ↩
- Golczewski, Frank: Ukrainische Reaktionen auf die deutsche Besetzung 1939/1941. In: Benz, Wolfgang (Hg.): Anpassung – Kollaboration – Widerstand. Kollektive Reaktionen auf die Okkupation. Berlin 1996, S. 199-211, hier S. 206-207. ↩
- Interview mit Ivan Hont, 30.09.2012, Jevmynka. ↩
- Ebd. ↩
- Nerdinger, Winfried: “Ostarbeiterlager” des Reichsbahn-Ausbesserungswerks Freimann . In: Ders. (Hg.): Ort und Erinnerung. Nationalsozialismus in München. München 2006, S. 100. ↩
- Auer, Elvira: Eisenbahn-Ausbesserungswerk Neuaubing. In: Landeshauptstadt München (Hg.): KulturGeschichtsPfad Aubing-Lochhausen-Langwied, S. 49-52, hier S. 50. ↩
- Schalm, Sabine: Unveröffentlichtes Historisches Gutachten zum Barackenlager in der Ehrenbürgstraße/Neuaubing 2008, S. 9. ↩
- Schreiben Nr. 34574 des Vorstands des Reichsbahn-Neubauamts der Reichsbahndirektion München vom 21.11.1942. In: LbK der LHS München, Bauakt Ehrenbürgstraße 9. ↩
- Schreiben Nr. 13405/2 des Regierungspräsidenten an die Lokalbaukommission d.H.d.B. in München vom 23.02.1943. In: LbK der LHS München, Bauakt Ehrenbürgstraße 9. ↩
- Schalm: Unveröffentlichtes Historisches Gutachten zum Barackenlager, S. 28. ↩
- Interview mit Ivan Hont, 30.09.2012, Jevmynka. ↩
- Auer: Zwangsarbeiterlager Ehrenbürgstraße, S. 56. ↩
- Nerdinger: „Ostarbeiterlager“ des Reichsbahn-Ausbesserungswerks Freimann, S. 100. ↩
- Interview mit Ivan Hont, 30.09.2012, Jevmynka. ↩
- Der Verein “Zug der Erinnerung” hat Opfern des NS-Regimes seine Unterstützung zugesichert. Diese fordern von der Deutschen Bahn Zahlungen an Überlebende nach dem Einstieg der Bahn in den polnischen Markt. Siehe dazu: Schmidt, Fabian: NS-Opfer fordern Hilfe von Deutscher Bahn, Deutsche Welle, 15.01.2010. URL: http://www.dw.com/de/ns-opfer-fordern-hilfe-von-deutscher-bahn/a-5129494 (10.11.2015) ↩
- Bahn-Chef Mehdorn: Wir Bahner brauchen keine neue Ausstellung, wir haben eine. In Frankreich war sie auf Bahnhöfen zu sehen, doch der deutsche Bahn-Chef will die Ausstellung „11.000 jüdische Kinder – Mit der Reichsbahn in den Tod“ nur im Museum zeigen. Hartmut Mehdorn über die Erinnerungspolitik seines Unternehmens. F.A.Z. 08.11.2006 URL: www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/bahn-chef-mehdorn-wir-bahner-brauchen-keine-neue-ausstellung-wir-haben-eine-1384626.html (10.11.2015) ↩
- Schmidt, Fabian: NS-Opfer fordern Hilfe von Deutscher Bahn. ↩
- Interview mit Ivan Hont, 30.09.2012, Jevmynka. ↩
- Ebd. ↩
- Quelle: Privatbesitz, mit freundlicher Genehmigung von Andreas Heusler. ↩
- * Ivan Hont
- Ehrenbürgerstaße
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