- Zwischen Hippierefugium und Erinnerungsort
- Vom Zwangsarbeitslager zur Künstlerkolonie
- „Wir hatten immer Hunger“ – NS-Zwangsarbeit in München-Neuaubing
- Die vielen Ebenen der Geschichte
Das ehemalige Zwangsarbeiterlager in Neuaubing soll zu einer Außenstelle des NS-Dokumentationszentrums München werden. Bis die Geschichte des Ortes aufgearbeitet werden konnte, war es ein langer Weg. An den neu entstehenden Erinnerungsort gibt es allerdings verschiedenste Erwartungen.
von Lukas Eichner, Lisa Füchte, Anke Oehler
Die Atelier- und Werkstatttage
„Lebendige Geschichte, Kultur, Kinder“1 war das Motto, unter dem vom 12. bis 14. Juni 2015 das jährliche Fest der Kunstschaffenden, Handwerkerinnen und Handwerker stand, die heute auf dem Gelände des ehemaligen Zwangsarbeiterlagers in der Ehrenbürgstraße in Neuaubing arbeiten.
„Kinder und Kultur“ waren dank Kindergarten, Kinder- und Jugendfarm und den geöffneten Ateliers und Werkstätten reichlich vorhanden. Neben den ausgestellten Werkstücken und Kunstwerken luden zahlreiche Angebote für Kinder zum Mitmachen ein. Das idyllisch bewachsene Gelände, sowie Musik von mehreren Bands und Verköstigung trugen zu einer entspannten Atmosphäre bei.
Die Programmplanung der Atelier- und Werkstatttage wird jedes Jahr von einem anderen Mitglied der hier Arbeitenden erstellt, sodass sie immer auch persönliche Schwerpunkte wiedergibt. Auffällig war im Jahr 2015 jedoch, dass an die „lebendige Geschichte“ nur ein Kunstwerk des Schreiners Alexander Werner erinnerte, welches vor der denkmalgeschützten Baracke 5 steht, dem letzten noch relativ original erhaltenen Bau. Es erinnert an ein Stück Gitter mit hervorstechenden bunten Vierecken und trägt den Titel „Ehrenbürg 2.0., 3 Jahre Zwangsarbeit, 30 Jahre Buntes Leben“. Damit betont es vor allem die Umnutzung des Geländes zu einem Künstlerort. Abgesehen von diesem Kunstwerk gab es jedoch nichts, was auf die Geschichte als Zwangsarbeiterlager hingewiesen hätte.
Hörte man sich bei den Besucherinnen und Besuchern um, wurden das Flair und das Gefühl von „Freiheit und Andersdenken“ von den meisten mit dem Gelände in Verbindung gebracht.2 Von dessen Entstehung und Funktion als Zwangsarbeiterlager wissen viele dagegen nichts oder halten die derzeitige Nutzung für mindestens ebenso wichtig wie die Erinnerung an die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Diese waren vorwiegend aus dem östlichen Europa verschleppt worden und wurden während ihrer Zeit in Neuaubing in den Baracken untergebracht, die heute noch zu sehen sind. Heute solle das Gelände „so bleiben, wie es ist, aber Erinnerung muss sein“ drückte es einer der Besucher prägnant aus.3
Das Wiederentdecken der Geschichte
Im Zuge der Planung des neuen Stadtviertels Freiham wurde die Stadt München 2004/05 wieder auf das Gelände an der Ehrenbürgstraße 9 aufmerksam.4 Durch dieses größte jemals für München geplante Bauvorhaben wird dem Gelände neue Bedeutung zukommen, da es zwischen dem neuen Viertel und Neuaubing liegen wird, statt wie jetzt abgeschieden am Stadtrand.
Sowohl unter den Anwohnerinnen und Anwohnern des Viertels Neuaubing wie auch innerhalb des Kulturreferats der Stadt München war seit Langem bekannt, dass es sich bei der Ehrenbürgstraße 9 um ein ehemaliges Zwangsarbeiterlager handelte. Die Stadt hatte allerdings lange gezögert, sich mit dem Thema vor Ort zu beschäftigen.5 Nach 2000 begann sie jedoch, sich verstärkt mit der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit zu beschäftigen, etwa durch die Thematisierung in stadtgeschichtlichen Ausstellungen oder durch die Planung des NS-Dokumentationszentrums.
In Folge dieser „Neuentdeckung“ entstand 2008 zunächst ein von der damaligen Besitzerin des Geländes, der Vivico Real Estate GmbH, und der Stadt München beauftragtes Gutachten der Historikerin Dr. Sabine Schalm, das auf die geschichtliche Bedeutung des Ensembles hinwies.6 Als Überlegungen aufkamen, dass das Gelände verkauft werden sollte, bemühten sich die Nutzenden darum, weiterhin auf dem Gelände bleiben zu können: Zum einen organisierten sie sich 2007 als Verein “FAUWE – Freie Ateliers und Werkstätten Ehrenbürgstraße e.V.”, zum anderen begannen sie, sich stärker mit der Vergangenheit des Ortes zu beschäftigen. So entstanden verschiedene Projekte, etwa eine kleine Ausstellung, die von den FAUWE-Mitgliedern selbst getragen wurde, oder ein Theaterstück über Zwangsarbeit, welches in den Kellerräumen einer Baracke aufgeführt wurde.7 „Das war eine sehr ergreifende und teilweise auch eine sehr beklemmende Vorstellung. Auch gerade umso mehr, als es in authentischen Räumen aufgeführt wurde“ beschreibt der Schreiner Christoph Wittner die Wirkung, die die historischen Räumlichkeiten erzeugen.8 Diese Projekte liefen jedoch selten über einen längeren Zeitraum, da es an Publikum, zum Teil aber auch am Willen oder den Möglichkeiten zur Weiterführung mangelte.
Auch die Presse, vor allem die Süddeutsche Zeitung, begann sich für das Gelände zu interessieren, zunächst unter dem Gesichtspunkt des bedrohten „Biotop für Lebenskultur“9, das „eine Insel geblieben [war], die den um sie tobenden Stürmen getrotzt hat“.10Der Fokus verschob sich jedoch zunehmend auf den entstehenden Erinnerungsort und die damit verbundenen Debatten. In den nächsten Jahren dokumentierten die Artikel vermehrt die zunehmende Erforschung der Lagergeschichte und im Herbst 2014 vor allem die aktive öffentliche Diskussion über die Zukunft des Geländes.11
Planungen und Erwartungen
2009 wurde das Gelände schließlich unter Ensembleschutz, die Baracke 5 unter Denkmalschutz gestellt und die beiden Splitterschutzbunker als Bodendenkmäler eingetragen. Kurz darauf entstand auch der Plan, das Gelände als Außenstelle des neu entstehenden NS-Dokumentationszentrums zu nutzen.
Viele der Nutzerinnen und Nutzer sahen darin eine Bedrohung, andere wiederum eine positive Entwicklung. Einer davon ist etwa der Steinmetz Georg Eichinger. Seiner Meinung nach hat „dieser Platz […] nur dann einen Sinn, wenn diese Atmosphäre und dieser politische Zusammenhang und das alles gewürdigt wird“.12 Viele andere befürchten jedoch Einschränkungen in ihrem Arbeitsalltag oder gar Verdrängung aufgrund von steigenden Mieten.
Das Kulturreferat der Stadt München sowie Stadtarchiv und NS-Dokumentationszentrum betonen in ihren Planungen dagegen die Bedeutung des Geländes als eines von nur zwei erhaltenen Zwangsarbeiterlagern deutschlandweit13 und die sich daraus ergebenden pädagogischen Möglichkeiten. Vorgesehen sind etwa Informationstafeln im Außenbereich, eine Ausstellung in einer der Baracken, Audioguides und spezielle Angebote für Schulklassen.14
Um das Gelände möglichst authentisch wiederherzustellen, erarbeitete die Münchner Stadtplanungsgesellschaft ein Konzept für die Umgestaltung. Die Räumung des zurzeit recht zugewachsenen inneren Teils des Areals soll Sichtachsen herstellen. Auch verschiedene bauliche Veränderungen der Baracken sind geplant, vor allem die Sicherung der schimmelbefallenen Baracke 5, die zur Darstellung der Lagerverhältnisse dienen soll. Immer wieder wird aber betont, dass die derzeitigen Mieterinnen und Mieter vor Ort bleiben und auch in das pädagogische Konzept eingebunden werden sollen.
Am 16. Juli 2015 beschloss der Kommunalausschuss des Münchner Stadtrats schließlich, das Areal an der Ehrenbürgstraße 9 zu kaufen. Die Entwicklung des Geländes von einem Ort der Unterdrückung, zu einem Ort des Vergessens, zu einem Ort freien Lebens und Arbeitens und schließlich zu einem Ort des Erinnerns, spiegelt im Kleinen auch den Prozess der Aufarbeitung des Nationalsozialismus in München wider.
- „Offen für alle. Drei Tage Programm. Lebendige Geschichte, Kultur, Kinder“, Flyer für die Atelier- und Werkstatttage, 12. bis 14. Juni 2015. ↩
- Feldtagebuch von den Ateliertagen „Offen für alle“, 13. und 14.06.2015, Neuaubing. ↩
- Ebd. ↩
- Gespräch mit Dr. Andreas Heusler und Dr. Sabine Schalm, 21.07.2015, München. ↩
- Ebd. ↩
- Schalm, Sabine: Unveröffentlichtes Historisches Gutachten zum Barackenlager in der Ehrenbürgstraße/Neuaubing 2008, S. 9. ↩
- Interview mit Christoph Wittner, 10.02.2015, Neuaubing. ↩
- Ebd. ↩
- Görl, Wolfgang: „Die Insel des heiligen Fahrradl-Franziskus“, Süddeutsche Zeitung, 04.07.2008. Nr. 154, S. 43. ↩
- Ebd. ↩
- Siehe dazu: Kaip, Konstantin: „Ein Ort der Erinnerung“, Süddeutsche Zeitung, 16.10.2014. Nr. 238, S. R13. ↩
- Interview mit Georg Eichinger, 08.04.2015, Gauting. ↩
- Das andere befindet sich in Berlin-Schöneweide. Vgl. URL: www.dz-ns-zwangsarbeit.de, (31.07.2015) ↩
- Vorläufiges Nutzungs- und Betriebskonzept. Beschluss der Vollversammlung des Stadtrates vom 23.11.2011 (RIS Nr. 08-14/V07779). ↩