1944 wurden Tausende Häftlinge aus dem östlichen Europa, vorwiegend aus Ungarn und dem Baltikum, nach Bayern deportiert, um dort Zwangsarbeit im Rüstungsbau zu leisten. Ihr Leben im Konzentrationslager war bestimmt von Hunger, Krankheit, Leid und schwersten Erniedrigungen.
von Susanne Maslanka, Sophie Rathke und Theresa Weiß
Um im Rahmen des Projekts „Ringeltaube“ Rüstungsbau zu betreiben, benötigten die Nationalsozialisten Arbeitskräfte. Auch in Utting am Ammersee wurde ein Lager errichtet, in dem größtenteils Häftlinge aus den Konzentrationslagern zur Zwangsarbeit genötigt wurden. Sie kamen sowohl aus dem KZ Dachau als auch aus den großen Lagern wie Auschwitz-Birkenau oder Stutthof und stammten hauptsächlich aus dem östlichen Europa. Die meisten von ihnen wurden aus Litauen deportiert, einige aus Ungarn. Dort mussten sie als jüdische Menschen bereits unter der genozidalen Vernichtungspolitik des NS-Regimes leiden.
Aus Osteuropa nach Bayern – Wege der KZ-Häftlinge
Ein Großteil der litauischen Juden war schon 1941, unmittelbar nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, ermordet worden, während die ungarischen Juden zwar diskriminiert, aber erst 1944 direkt verfolgt wurden. Von über 400 000 ungarischen Juden, die im letzten Kriegsjahr nach Auschwitz deportiert wurden, ermordete man drei Viertel sofort, ein Viertel wurde zum Arbeitseinsatz weitergeschickt. Bei der Auflösung der großen litauischen Ghettos 1943, die zum Teil in KZs umgewandelt worden waren, wurden die Insassen zunächst nach Stutthof gebracht, das in diesem Fall als Selektionsstation diente: Die als arbeitsuntauglich Erachteten wurden zur Ermordung nach Auschwitz deportiert, die anderen weiter zum Arbeitseinsatz, häufig nach Südbayern.
Die Deportation nach Süddeutschland geschah unter menschenunwürdigen Umständen. Nach den Erinnerungen von Abba Naor, einem der wenigen Überlebenden des Uttinger Lagers, wurden bis zu 80 Menschen ohne Wasser und Verpflegung in einen Viehwagon gepfercht.1 Am 18. August 1944 gab es einen großen Transport nach Utting aus Stutthof.2 Auch Jakob Ben Zion Feinstein wurde unter ähnlichen Bedingungen nach München deportiert.
Jakob Feinstein arbeitete in einer Bernsteinmanufaktur in Litauen in der kleinen Stadt Polangen (heute: Palanga), nahe der Grenze zum Deutschen Reich. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kam er zuerst ins Gefängnis, da er zur „Intelligenzija“ gehörte. Kurz darauf wurde er in das Ghetto Kaunas gebracht, wo er zwei Jahre leben musste. Berichte aus dem Ghetto Kaunas erzählen, dass ganze Familien in kleinen Räumen hausen mussten, dass es – selbst für Kinder – bereits schwere Arbeitsdienste gab, und dass immer wieder Schwache und Kranke aus dem Ghetto selektiert und ermordet wurden.3 Insgesamt fielen in Litauen während der deutschen Besatzung 96% der litauischen Juden dem NS-Terror zum Opfer.4
Jakob Feinsteins erste Familie – seine Frau, seine Kinder und seine Schwiegereltern – wurden am 10. September 1941 im Wald bei Kaunas erschossen. Er selbst wurde nach Stutthof gebracht und 1944 mit etwa 650 weiteren Häftlingen zur Zwangsarbeit nach Utting deportiert. Feinstein überlebte das Konzentrationslager und den Todesmarsch, viele andere der Gefangenen starben jedoch an Hunger, Krankheit und Entbehrungen.
Alltag und Leid im KZ Utting
„In den Erdhügeln, wo die Gefangenen leben mussten”, erzählte uns Frau Feinstein, „zeigte Herr Feinstein jede Kleinigkeit: Ein Loch oder ein Nagel in einem Brett zum Mittelgang um durchnässte Kleidung über Nacht aufzuhängen, in der Hoffnung, dass sie bis zum Morgen trocknen würde. Denn Ersatz gab es nicht…
Über dem Ofen war ein Gewirr von alten verbogenen Drähten in unterschiedlichen Längen zu erkennen. Herr Feinstein klärte uns auf: An ihnen wurden die am Wegrand entdeckten und aufgesammelten Schnecken befestigt, um sie 24 Stunden zu entleeren, bevor sie auf dem Ofen gebraten und anschließend mit Heißhunger verzehrt wurden. Andere begehrte Lebensmittel waren Sauerampfer und wilder Knoblauch, die auf dem Heimmarsch von der Arbeit heimlich am Wegesrand gepflückt und mitsamt der anhaftenden Erde verschlungen wurden.“5
So beschrieb Jakob Ben Zion Feinstein seiner zweiten Frau, die er nach Kriegsende kennengelernt und in München geheiratet hatte, bei einem Besuch in Utting den Hunger und die Not im Konzentrationslager.
Die Häftlinge mussten in Utting unter unmenschlichen Bedingungen leben: Ihre Unterbringung erfolgte in zugigen, feuchten Erdhütten, die so klein waren, dass man kaum Platz zum Schlafen hatte.6 Es herrschte ständiger Hunger.
Es gab etwa 650 Häftlinge in Utting, vor allem Männer aus dem östlichen Europa. Die meisten kamen mit dem gleichen Transport wie Jakob Feinstein an, danach wurden die Häftlinge zwischen den Lagern ausgetauscht. Allerdings gibt es auch Berichte von Frauen aus Ungarn und der Ukraine, die Zwangsarbeit in Utting leisten mussten. Am 17. März 1945 kam ein Transport mit zwölf Frauen in Utting an, die von da an vor allem in der Küche des Konzentrationslagers tätig waren.7
Die „Organisation Todt“ (OT) war für die Umsetzung des Bauunternehmens zuständig. Die KZ-Insassen mussten unter Leitung und Bewachung der OT für die Firma Dyckerhoff & Widmann schwere körperliche Arbeit leisten. Zu den Aufgaben der Gefangenen gehörte das Verlegen von Schienen, das Schleppen von 50 kg schweren Zementsäcken und das Schaufeln von Sand und Kies, sowie der Transport von Kies aus der örtlichen Kiesgrube zur Firma.8
Außerdem mussten die Häftlinge im Dorf arbeiten und Gräben für Laternen und Strommasten ausheben, sowie in den Betrieben aushelfen.9 Gearbeitet wurde in 12-Stunden-Schichten, der Arbeitstag begann um 5 Uhr mit einem Zählappell. Ein Aufseher des KZ Utting, Hermann Calenberg, schlug nach Aussage von Überlebenden bei jedem Zählappell Gefangene zusammen und untersuchte die Insassen auf Goldzähne, um sie ihnen nach ihrem Tod zu ziehen.10 Er selbst sagte jedoch aus, dass er lediglich einmal davon gehört habe, dass einem Insassen im Außenlager Utting in den Bauch getreten worden war.11
Der Überlebende Solly Ganor beschrieb das Grauen so: „Das hier war schlimmer, als gleich getötet zu werden. Sie quälten die Menschen zu Tode, indem sie sie bei Schwerstarbeit verhungern ließen.“12
Im Dachauer Gerichtsprozess 1947 gegen den Aufseher Richard Hoschke sagte der Zeuge Josef Milner aus, dass Hoschke die Gefangenen zwang, schwere Arbeit zu tun, während sie bis zum Bauch in eiskaltem Wasser standen. Er ordnete Prügel für diejenigen an, die versuchten, sich an einem Feuer zu wärmen und schlug auch selbst regelmäßig männliche Insassen des Lagers Utting. Einmal beobachtete der Zeuge Kliberski, dass Hoschke eine Gefangene auf brutale Weise zusammenschlug.13 Manchmal wurden die Häftlinge auch an die Baustelle des Weingut II oder das Lager Kaufering VII „ausgeliehen“, wo die schlimmsten Bedingungen im Kauferinger Lagerkomplex herrschten und täglich zwischen 30 und 45 Menschen starben.14
Auch wenn Abba Naor, der im Uttinger Lager in Solly Ganor sowohl einen Leidenskameraden als auch einen Freund fürs Leben fand, bei einem Gespräch witzelte, Utting sei nicht so schlimm gewesen – „Es gab weniger Läuse!“15 – waren die Lebensumstände auch in Utting grausam: Neben dem ständigen Hunger führte die Wachmannschaft der OT ein hartes Regiment: Solly Ganor berichtete, dass „einige schlimmer als die SS“16 waren. Es gab sehr wohl eine Läuse-Plage und harte Strafen für das „Stehlen“ von Nahrung. Wurden die KZ-Insassen beim Sammeln von Gräsern oder Schnecken am Wegesrand erwischt, gab es Prügel. Zu schwache Häftlinge wurden aus Utting ins Krankenlager Kaufering IV transportiert, wo die meisten starben.
Im Gerichtsprozess von Dachau 1947 wurde es als erwiesen angesehen, dass „die Insassen im Außenlager Utting Opfer von Gräueltaten und Folter wurden, die im Wesentlichen wie diejenigen in Dachau waren“17. Trotzdem wurden nicht alle Beteiligten verurteilt und teils gab es keine Reue bei den ehemaligen KZ-Aufsehern: So sagte Calenberg aus, dass er niemals einen Gefangen geschlagen, sondern vielmehr den Insassen geholfen habe. Er gab sich selbst den Beinamen „Freund der Juden“18.
Das Lager Utting reiht sich somit ein in die grausame Geschichte von menschenverachtender Ausbeutung der Häftlingsarbeit durch die Nationalsozialisten, die zwischen 1944 und 1945 noch viele weitere Opfer forderte.
- Naor, Abba / Zellner, Helmut: Ich sang für die SS. Mein Weg vom Ghetto zum israelischen Geheimdienst, München 2014, S. 143. ↩
- Telefoninterview mit Gerhard Roletschek, 02. Juli 2015. ↩
- Vgl. Ganor, Solly: Das andere Leben. Kindheit im Holocaust, Frankfurt a.M. 1997, S. 61 ff. ↩
- Vgl. Bubnys, Arunas: The Holocaust in Lithuania between 1941 and 1944, Vilnius 2008, S. 42. ↩
- Interview mit Gertrude Feinstein am 03. Juni 2015. ↩
- Vgl. Gerichtsakte D 61, Dachau Trial 1947, S. 2. ↩
- Telefoninterview mit Gerhard Roletschek am 02. Juli 2015. ↩
- Ganor, Solly: Das andere Leben, S. 179. ↩
- Interview mit Gertrude Feinstein, 03. Juli 2015, München. ↩
- Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau, Gerichtsakte D 61, Dachau Trial 1947, S. 3. ↩
- Ebd. ↩
- Ganor, Solly: Das andere Leben, S.182. ↩
- Vgl. Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau, Gerichtsakte D 61, Dachau Trial 1947, S. 4. ↩
- Ebd. ↩
- Gespräch mit Abba Naor, 03. Juli 2015, München. ↩
- Ganor, Solly: Das andere Leben, S. 179. ↩
- Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau, Gerichtsakte D 44, Dachau Trial 1947, S. 2. ↩
- Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau, Gerichtsakte D 61, Dachau Trial 1947, S. 3. ↩
- Abba Naor
- Alltag
- Baltikum
- Bayern
- Dachauer Gerichtsprozess
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